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Wem bin ich der Nächste?

10. Juli 2022

„Es ist ein anstrengender Weg: 30 Kilometer durch die Wüste Juda. Der Gang muss gut geplant sein, an Verpflegung und Wasser muss gedacht werden. Ein Höhenunterschied von 1200 Metern gilt es zu bewältigen: viele steile Felsschluchten, ein ausgetrocknetes Wadi, bröckeliges Gestein. Leicht kann der Fuß umknicken oder der Esel hat wieder seine störrische Phase und bockt. Das ist kein leichter Spaziergang, sondern ein Weg mit Strapazen - auch für Geübte. Schnell ist man müde und erschöpft. Man wünscht sich bald ans Ziel und am Ruheplatz, an den Quellen und den schattigen Bäumen in Jericho anzukommen; und auf dem Weg ist man nicht geschützt, vor Räubern und Dieben, die einem auflauern können. Jeder, der schon mal durch das Wadi Qelt, dem Wadi, das von Jerusalem nach Jericho führt, gegangen ist, wird ähnliche Gedanken gehabt haben. So wird auch der Mann aus Samarien, der in Jerusalem war und wahrscheinlich nach Hause will, gedacht haben. Und da das: Da liegt jemand am Wegrand – blutend, zusammengeschlagen. Was wird sich der Mann aus Samarien wohl in diesem Moment gedacht haben? ‚Das hat mir gerade noch gefehlt? Mensch, Du hast mir gerade noch gefehlt? Eigentlich passt es mir momentan nicht, ich habe gerade viel zu tun. Wenn ich Dir helfe, verpasse ich meine Angelegenheiten und Geschäfte, komme ich zu spät nach Hause, zu meiner Familie, die wartet und sich Sorgen macht. Wenn ich Dir helfe, verpasse ich meinen Gottesdienst. Wenn ich Dir jetzt helfe, mache ich mich schmutzig, werde ich auch blutverschmiert, werde ich unrein. Vielleicht ist es ja auch eine Falle?‘

Wie bequem wäre es, wenn man die Verwundeten vor der eigenen Tür fände. Aber da sind sie nicht, meistens. Ja meistens kommt alles zusammen: man findet den Hilflosen gerade dann, wenn man selbst angeschlagen ist, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann, wenn man erschöpft durch das Wadi des Lebens gehen muss. ‚Mensch, Du hast mir gerade noch gefehlt!‘ Da hat man Mühe allen Anforderungen des Alltags gerecht zu werden, reißt sich schon alle Beine aus, um Studium, Beruf, Arbeit, Familie gerecht zu werden und dann das: Da liegt plötzlich ein Hilfloser oder eine Hilflose vor meinen Füßen. Ja, diese Not stört, der Nächste stört, aber: Störungen haben Vorrang, der Nächste hat den Vorrang.

Auch nach fast 2000 Jahren hallt die Frage des Gesetzeslehrers nach: Wer ist mein Nächster? Diese Frage muss aber anders formuliert werden; so wie sie Jesus am Schluss der Parabel formuliert: nicht statisch, sondern aktiv, beziehungsmäßig, dynamisch - im Dativ! Wer ist dem Notleidenden zum Nächsten geworden? Nicht wer ist? Sondern: Wem bin ich der Nächste? - Denn diese Frage lässt sich nicht theoretisch beantworten! Jede Situation - heute, morgen, übermorgen – kann mich zum Nächsten machen. Entscheiden ist das Tun der Nächstenliebe und die Barmherzigkeit.

Und vor lauter Nächstenliebe und der Frage ‚Wem bin ich der Nächste?‘ dürfen wir den Anfang des Evangeliums nicht vergessen. Dort steht sie, die Frage nach dem Hauptgebot – diese andere Seite der Medaille, die andere Hälfte. Was ist das Hauptgebot, was ist uns Menschen vor allem geboten? ‚Du sollst den Herrn, Deinen Gott lieben, mit Deinem ganzen Herzen und Deiner ganzen Seele, mit Deiner ganzen Kraft und mit Deinem ganzen Denken.‘ Gelingt uns das, haben wir so viel Gottesliebe und Gottvertrauen? Oder sagen wir doch viel lieber: ‚Gott, Du hast mir gerade noch gefehlt; eigentlich passt Du mir gerade nicht, denn ich habe zu tun! Aber beides: die Liebe zu Gott und zum Nächsten sind das Hauptgebot! Entscheidend ist das ‚Und‘!

Heiner Wilmer, der Bischof von Hildesheim, beschreibt das Ineinander der beiden Gebote so: ‚Gottvertrauen bedeutet nicht, sich entspannt zurückzulehnen und abzuwarten und zu meinen, es wird schon alles glattgehen. Gottvertrauen trägt dann, wenn man Risiken eingeht, weil man sich getragen fühlt, aber verantwortlich bleibt. Wer Gott vertraut, gibt seine Verantwortung und Initiative nicht an der Garderobe seines Lebens ab.‘ Ignatius von Loyola schreibt pointiert: ‚Handle so, als ob alles von Dir abhängt, in dem Wissen aber, dass in Wirklichkeit alles von Gott abhängt.‘ Amen.“

Pater Elias und alle Brüder in Jerusalem und Tabgha wünschen Euch einen gesegneten Sonntag!

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