Jerusalem - Alle meine Quellen entspringen in dir!
01. Juni 2009
Dankesrede von Abt Benedikt Lindemann OSB zum Anlass der Verleihung des Göttinger Friedenspreises am 6. März 2004
Sehr geehrte Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Dr. Antje Vollmer,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Schumann,
sehr geehrter Herr Bürgermeister Wilhelm Gerhardy,
sehr geehrte Familie Röhl,
sehr geehrter Damen und Herren.
Jerusalem war immer schon eine schwierige Adresse
"Jerusalem war immer schon eine schwere Adresse", lautet der Titel eines Buches der deutschsprachigen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff, die in Jerusalem lebt und schreibt. In diesem Buch beschreibt sie in autobiographischer Weise die so genannte "Erste Intifada" der 1990er Jahre, und sie beschreibt sie auch in ihrer menschlichen, nur allzu menschlichen Tragik.
Gerade darin spiegelt sich der Titel des Buches: "Jerusalem war immer schon eine schwere Adresse". Denn eine schwere Adresse ist Jerusalem nicht nur für die große Politik, sei sie nun friedlich, diplomatisch oder aggressiv-militärisch. Jerusalem ist eine Stadt, die den Menschen, der ihn ihr lebt, der sie auch nur kurz besucht, fordert, manchmal vielleicht sogar überfordert.
Das hat nun seinerseits gewiss auch wieder Rückwirkungen auf die große Politik und macht es dem einfachen Bürger Jerusalems nicht leichter mit seiner schwierigen Adresse.
Aber für dieses Problem, für diese Tragik kann ich und können meine Brüder in der Abtei Hagia Maria Sion keine Lösungen anbieten: Als Mönche sind wir keine Strategen und Politiker, wir sind auch keine Helden oder Freiheitskämpfer.
Für die Freiheit kämpfen wir wohl, und zwar für die Freiheit in Christus (vgl. Gal 2,4). Wir kämpfen mit den geistlichen Werkzeugen, die uns der Heilige Benedikt mit seiner Regel zur Hand gegeben hat. Diesen Kampf - erlauben Sie mir noch einmal diesen Ausdruck - diesen Kampf tragen wir Mönche zunächst einmal in uns selbst aus, mit uns selbst und vor allem mit Gott, unserem Herrn und Schöpfer. Das Ziel besteht wie so oft in einem Weg: dem Weg der Versöhnung des Mönches mit Gott, der Versöhnung mit sich selbst, der Versöhnung mit seinem Nächsten. - Dafür ist Jerusalem, das dürfen Sie mir glauben, nicht die schlechteste Adresse, eine schwierige Adresse gewiss, aber eben nicht die schlechteste.
Zunächst einmal ist es für uns Christen sehr, sehr hilfreich, dass wir bei all den Heiligtümern, die auch wir in Jerusalem verehren, keine politischen Ansprüche auf die Heilige Stadt und das Heilige Land stellen. Das war auch schon anders, mit verheerenden und blutigen Folgen. Da sind wir heute, so hoffe ich, weiter. Dennoch gilt, was der jüdische Gelehrte Schalom Ben-Chorin geschrieben hat:
"Jerusalem ist die einzige zweidimensionale Stadt der Welt. Es gibt ein himmlisches und ein irdisches Jerusalem. Keine andere Stadt weist in der Vorstellung von Millionen Menschen diese Zweidimensionalität auf, nicht einmal Rom, das sich die Ewige Stadt nennt. Diese zweidimensionale Stadt ist heilige Stadt der drei monotheistischen Weltreligionen: Judentum, Christentum und Islam."
In der Tat, gerade das macht Jerusalem zu einer schwierigen Adresse, aber eigentlich macht es diese Heilige Stadt zu ersten Adresse. Denn diese zweidimensionale, dreimal heilige Stadt ist wie ein Spiegel der Erlösungsvorstellungen und Friedensvisionen der drei Religionen: Für uns Christen der Ort des Todes und der Auferstehung Jesu Christi und als himmlisches Jerusalem, wie es uns der Seher Johannes in seiner Offenbarung mit Bildern aus Altem Testament und jüdischer Tradition schildert, das Bild des wiederhergestellten Paradieses. Für die frommen Juden ist Jerusalem die Stadt des messianischen, endzeitlichen Dritten Tempels, für die weniger frommen zumindest ewige und unteilbare Hauptstadt. Für Muslime ist sie nach Mekka und Medina die drittheiligste Stadt, von wo aus der Prophet Muhammad zu seiner Himmelsreise aufgebrochen ist.
Und so haben sich schon seit allen Zeiten verschiedene Völker, Kulturen und Glaubensgemeinschaften in der Stadt aufgehalten, haben dort gelebt und gebetet und nur allzu oft auch miteinander und untereinander gekämpft. Was wir heute mit multikultureller Gesellschaft und Globalisierung bezeichnen, das erlebt Jerusalem schon seit Jahrtausenden.
Alle meine Quellen…
Der Verfasser des Psalms 87 hat dies in einer ganz besonderen Art und Weise beobachtet und ins Wort gefasst. Er tut es auf eine Weise, die für den aktuellen Konflikt ausgesprochen interessante Denkanstöße gibt:
"Seine Gründung auf heiligen Bergen - die Tore Zions liebt der Herr vor allen Stätten Jakobs",
beginnt er und unterstreicht zunächst so einmal die Bedeutung und Heiligkeit der Stadt.
Er fährt fort:
"Herrliches sagt man von dir, du Stadt unseres Gottes: Ich zähle Ägypten und Babylon zu denen, die mich kennen!'"
- Ägypten und Babylon sind zwei der mächtigsten und bedeutendsten Reiche des Alten Orient gewesen. Wenn diese kleine Stadt Jerusalem im judäischen Bergland auch bei diesen Großen "gekannt" wird, bekannt ist, dann ist das mehr als nur eine Aussage über die Bedeutung dieser Stadt. Dann heißt das aus Perspektive Jerusalems:
"Hört her, wir haben Euch Großen etwas zu sagen! Wir haben eine Botschaft für Euch!"
- Ob diese Botschaft gehört wird, ist eine zweite Frage. Aber das Phänomen ist bleibend aktuell: Wer bei den Großen etwas zu sagen hat, wer bei ihnen bekannt ist, der hat Möglichkeiten, die Welt im Guten wie im Schlechten mitzugestalten.
Aber zurück zu unserem Psalm, denn der wird in den kommenden Versen erst richtig interessant:
"Mag einer im Land der Philister geboren sein, in Kusch oder Tyrus - so gilt doch von Zion: Dort ist ein jeder gebürtig! Der Höchste selbst ist es, der dieser Stadt Bestand gibt."
- Die Philister, das sind die großen Feinde Israels! Denken Sie an David und Goliath! - Kusch und Tyrus, das sind zwei der kleineren Nachbarn Israels, keine Feinde - von Tyrus aus bekam der sagenhafte König Salomo Hilfe zum Bau des Tempels - aber auch keine Freunde im eigentlichen Sinne. Auch diese Völker sind also auf dem Zion, d.h. in Jerusalem geboren.
Fahren wir fort im Psalm:
"Der Herr schreibt im Verzeichnis der Völker: Auch dieser ist dort gebürtig!"
- das heißt nichts anderes, als dass alle Menschen auf dem Zion geboren sind. Eine Variation der Schöpfungsgeschichte: Alle Menschen gehen auf Gottes Ursprung zurück, sind Seine Geschöpfe, Seine geliebten Geschöpfe, die Er in Sein Verzeichnis einträgt. Das umfasst auch die kleineren Freunde und die größeren Feinde: Kusch und Tyrus, aber auch Ägypten und Babylon. - Angesichts der militärischen Übermacht der beiden Großreiche im Osten und Westen Israels wird man diese Aussage wohl kaum als eine die eigenen Möglichkeiten maßlos überschätzende Vereinnahmung missdeuten können. - Es ist tatsächlich eine Aussage, die auf dem Menschenbild biblischer Schöpfungstheologie steht und verortet ist sie in Jerusalem.
Deshalb beschließt der Dichter seinen Psalm mit den Versen:
"Und sie (gemeint sind die Völker aus dem Vorvers) tanzen und singen: In dir sind alle meine Quellen!"
- Jerusalem als Quelle aller Völker, als Quellort aller Menschen.
Noch einmal möchte ich darauf hinweisen, dass hier auch den Feinden ein Geburts- und Heimatrecht in der eigenen, der Heiligen Stadt gewährt wird; mehr noch: Es wird einfach festgestellt, als im wahrsten Sinne des Wortes göttliche Ordnung. - Das ist ein Gedanke, der im gegenwärtigen Konflikt im Heiligen Land genug Sprengstoff entwickeln könnte, um die sichtbaren und auch die unsichtbaren Mauern aus dem Weg zu räumen, damit die Menschen zueinander finden können. - Vielleicht noch eines: Wenn man, bei aller gebotenen Vorsicht, dieses Bild Jerusalems psychologisch auf uns selbst überträgt, wird man zu der Aussage kommen müssen, dass auch unsere Freunde und unsere Feinde in uns geboren sind, dass also meine "innere Stadt", d.h. meine Persönlichkeit mit all ihren Kräften auch erst dann vollständig ist, wenn ich erkenne, dass meine eigenen inneren Licht- und Schattenseiten in dieser Stadt meines Wesens Heimat- und Geburtsrecht haben…
Alle meine Quellen entspringen in dir…
In einem Land wie dem Heiligen Land weiß man klare und saubere Wasserquellen zu schätzen. Wasser ist der Grundstoff unseres Lebens. Papst Johannes Paul II. hat es dieser Tage als Grundrecht bezeichnet. Schon heute aber ist es Bestandteil des Konfliktes in Israel und Palästina, wenn es z.B. um das Recht, Brunnen zu graben geht. In unmittelbarer Nähe unseres Priorates Tabgha liegt das Pumpwerk, mit dem das Wasser des Sees Genesareth als Trink- und Nutzwasser in das ganze Land gepumpt wird. Hoher Stacheldraht und Sicherheitsanlagen schützen das Pumpwerk. In den beiden letzten Wintern hat es relativ viel geregnet, aber es werden auch wieder trocknere Winter kommen. Wasser wird genau so einmal im Mittelpunkt kriegerischer Auseinandersetzungen stehen wie heute das Erdöl…
"Alle meine Quellen entspringen in dir."
Da wo eine Quelle entspringt, da ist das Wasser eines späteren Baches oder Flusses in aller Regel noch sauber und klar. Die Aussage, dass die Quelle aller Völker in Jerusalem entspringt, wirkt da schon etwas wunderlich, wenn man sich ansieht, mit wie viel Schmutz der Fluss der Menschheitsgeschichte alleine im Heiligen Land durch die Jahrhunderte und Jahrtausende geflossen ist. - Oder entspringt aus Jerusalem vielleicht gerade die kriegerische und blutige Seite des Menschen? Immer wieder macht man ja gerade auch den Religionen den Vorwurf, den Hass auf den Anders- oder Nichtgläubigen zu schüren. Wahr daran ist in jedem Fall, dass gerade im Namen der Religion, ja, im Namen Gottes, immer wieder Unrecht und Gewalt in die Welt getragen wurden: Seien es die religiös motivierten und begründeten Kriege und Auseinandersetzungen des europäischen Mittelalters, von den Befreiungs- und Glaubenskriegen Karls des Großen über die Kreuzzüge bis hin zum 30jährigen Krieg und darüber hinaus. Oder seien es die Konflikte unserer Zeit: auf dem Balkan, in Irland und - aus meiner Perspektive natürlich - der Konflikt im Heiligen Land.
Mönche zwischen den Fronten
Zugleich haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Theologen und Gelehrte verschiedener Konfessionen und Religionen darüber Gedanken gemacht, welchen Beitrag die Religionen zu einem nachhaltigen und wahren Frieden in der Welt leisten können. Diese Frage ist natürlich auch an unserer benediktinischen Klostergemeinschaft nicht spurlos vorüber gezogen, weil ja auch die Kriege und Konflikte der vergangenen 100 Jahre, seit es unser Kloster in Jerusalem gibt, nicht ohne Spuren an uns vorbeigezogen sind: 1898 wurde im Beisein Kaiser Wilhelms II. der Grundstein für unser Kloster gelegt, 1906 kamen die ersten Mönche aus Deutschland, die als Deutsche aber das Kloster nach einer ersten Phase der Stabilisierung im Zuge des Ersten Weltkrieges wieder verlassen mussten und nach Ägypten deportiert wurden. In den 20er und 30er Jahren setzte eine erneute Stabilisierung ein, es kam zu einer gewissen Blüte des Klosterlebens, bis dann der Zweite Weltkrieg und der israelische Unabhängigkeitskrieg auch hier wieder einen Schlussstrich zog: Während die Abtei zwischen den Fronten lag und immer wieder beschossen wurde, waren die Mönche wieder einmal deportiert, dieses Mal zu den deutschen Borromäerinnen in Jerusalem. Und so starb der erste Abt unseres Klosters, Maurus Kaufmann, in Sichtweite seiner besetzten und beschossenen Abtei im Exil bei den Schwestern. Auch wenn die Brüder 1950 wieder nach und nach ins Kloster zurückkehren durften und die Kriegsschäden beseitigt wurden, sowie der Besuch Papst Pauls VI. im Jahre 1964 werden kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Abtei in den folgenden Jahren kaum auf die Beine kam: Sie lag im Niemandsland. Der Zion war auf drei Seiten von jordanischem Gebiet umgeben, auf einer Seite war der Berg mit der israelisch-jüdischen Weststadt Jerusalems verbunden. Dem setzte erst der Sechs-Tage-Krieg ein Ende. Danach begann eine neue Stabilisierung der Abtei, Abt Laurentius Klein initiierte das Theologische Studienjahr, das katholischen und evangelischen Theologierstudierenden aus dem deutschsprachigen Raum die Möglichkeit bietet, nach ihrem Vordiplom bzw. nach ihrer Zwischenprüfung für zwei Semester im Land der Bibel die Bibel selbst, Geschichte und Archäologie des Heiligen Landes, die Religionen, Konfessionen, Kulturen und Völker des Landes kennen zu lernen.
Immer wieder aber gab es auch in den folgenden Jahren personelle und wirtschaftliche Probleme und Krisen. Mehr als einmal stand in den 100 Jahren der Geschichte unseres Klosters die Frage im Raum, ob es denn nicht geboten sei, die Abtei aufzuheben… Man hat es nicht getan. Gott sei Dank! - Gewiss: Jerusalem ist unter den Aspekten dieser Kriegs- und Zeitgeschichte des zurückliegenden Jahrhunderts eine schwierige Adresse, gerade auch für uns Mönche. Aber ich glaube, dass es allen unseren Brüdern immer wieder bewusst war, dass eben gilt, was der Psalmdichter so passend formuliert hat:
"Alle meine Quellen entspringen in dir!"
Die verschiedenen Generationen von Mönchen auf dem Zion haben versucht, ihre eigene Antwort auf die Frage zu geben, welchen Beitrag sie als Mönche zum Frieden in der Heiligen Stadt beitragen können: Sie waren (und sind bis heute) Anlaufstelle für deutsche Pilger und Reisende im Heiligen Land; sie haben sich in der Ausbildung des Priesternachwuchses des lateinischen Patriarchates engagiert; sie haben sich mit Theologie, Geschichte und Kultur beschäftigt; haben Werkstätten aufgebaut; sie waren Gastgeber für einzelne und Gruppen und auch - aufgrund der besonderen geo-politischen Lage im Niemandsland - für Politiker der beiden Konfliktparteien im Land… usw. So begegneten sie immer wieder beiden großen Bevölkerungsgruppen im Land selbst und vielen, vielen Gästen aus dem Ausland.
Wir führen so als Mönche zwischen den Fronten vielleicht nicht ein idealtypisches Klosterleben, wie man es sich in einem frommen Bilderbuch vorstellen mag. Auch wenn die Mönche zu allen Zeiten immer wieder in die große oder kleine Politik hineingerutscht sind und sich mehr oder weniger aktiv an ihr beteiligt haben. Und es ist in der Tat eine der spannendsten Aufgaben für meine Brüder und mich, jeden Tag neu das klösterliche Leben in Gebet und Arbeit mit unserem konkreten Ort in Beziehung zu bringen. - Da ist Jerusalem tatsächlich eine schwierige Adresse.
Leben aus der Kraft der Verwurzelung im Land der Bibel
Aber Gott sei Dank: Es entspringen eben für mich als Christ und Mönch alle Quellen in dieser Stadt, in diesem Land. Und aus diesen Quellen dürfen wir als Gemeinschaft schöpfen. Da bedarf es an sich keiner großartigen theologischen oder philosophischen, gar sozialen oder politischen Gedankengebäude oder Entwürfe: Die beiden Orte, an denen unsere Gemeinschaft im Heiligen Land lebt, geben uns schon als solche und mit ihren Traditionen ein eigenes Fundament.
Unser Priorat Tabgha am See Genesareth im Norden Israels - 200 Meter unter dem Meeresspiegel, wo sechs unserer Brüder leben, wurde bereits von den frühen Christen als Ort der wunderbaren Brotvermehrung verehrt. Im 15. Kapitel des Matthäusevangeliums wird eine der Brotvermehrungsgeschichten erzählt: In Scharen sind die Menschen zu Jesus gekommen, unter ihnen viele Lahme, Blinde, Krüppel, Stumme. Friedolin Stier übersetzt die weitern Verse:
"Und Er (Jesus) machte sie heil - zum Staunen der Leute, die erblickten, dass Stumme reden, Krüppel heil sind, Lahme gehen, Blinde aufblicken."
- Weiter heißt es dann:
"Jesus aber rief Seine Jünger heran und sprach: Mir ist weh um die Leute. Schon drei Tage harren sie bei mir aus und haben nichts zu essen…"
Mir ist weh um die Leute. Und Er machte sie heil. - Dieses Mitleid, dieses Erbarmen Gottes mit den Menschen prägt bis heute diesen kleinen Flecken Tabgha mit seiner Abgeschiedenheit und der wunderbaren Tier- und Pflanzenwelt. Schon seit vielen Jahren kommen behinderte und nicht behinderte Kinder und Jugendliche: Palästinenser, Israelis und auch Europäer, hier hin, um einige Tage oder Wochen ihrer Ferien zu verbringen. Sich kennen lernen, zusammen leben und essen, das geschieht so auf eine ganz natürlich Weise, v.a. die Kinder sind es, die sich im Spielen begegnen und so die ersten Barrieren durchbrechen.
So wie Tabgha seine Quellen für unser Leben als Mönche hat, so gilt das auch für den heiligen Berg Zion: Drei große Ereignisse sind es, die den Zion und unser Klosterleben dort prägen: Das letzte Abendmahls mit der Einsetzung der Eucharistie und der Fußwaschung, die Aussendung des Heiligen Geistes an Pfingsten und der Tod der Gottesmutter Maria, der unserer Kirche und unserem Kloster den Namen gegeben hat: Dormitio Beatae Mariae Virginis - Entschlafung der Seligen Jungfrau Maria. - Die Eucharistie als Zeichen der Einheit und Liebe, der Liebe Gottes zu den Menschen, der Liebe der Menschen zu Gott, der Liebe der Menschen zu ihrem Nächsten; die Fußwaschung, die eine der wunderbarsten Meditationen über Dienen und Herrschen ist; die Geistsendung, die Kraft und Richtung für die Verkündigung der Botschaft des Erbarmens, der Liebe, des Lebens gibt; der Tod Mariens, um deren Sterbebett sich die Apostel versammelt haben… - Der Zion ist so zu einem Ort der Sammlung und der Sendung der Kirche geworden. Ein tief spiritueller Ort, der Ruhe und Kraft in sich vereint, der einen zu sich selbst kommen lässt und der aus dieser Sammlung heraus wieder nach Außen wirkt, so wie in den ersten Tagen der Kirche vom Zion aus die Apostel in die ganze Welt losgezogen sind.
Wir haben dabei in den vergangenen Jahren, in denen der Konflikt im Heiligen Land aufs neue brutal und blutig ausgebrochen ist, eine ganz wunderbare Erfahrung machen dürfen: Je mehr wir uns bemühen, als Mönche zu leben - und nicht als Politiker, Sozialarbeiter oder Krisenmanager - um so mehr und umso besser können wir unseren Beitrag für Verständigung und Versöhnung, letztlich für Frieden im Heiligen Land leisten: Das persönliche und das gemeinsame Gebet etwa ist eine der wichtigsten Säulen unseres Lebens; auf dem Zion ist das spezielle Gebet um den Frieden natürlich eine ganz besondere Aufgabe für uns. Zu diesem Friedensgebet laden wir immer wieder auch Stadt und Land ein, lassen jeden Samstag um 15 Uhr unsere Glocken als Mahnung für den Frieden läuten. - Gerade dieses Glockenläuten wird weithin in der Stadt Jerusalem wahrgenommen: Wenn es einmal ausbleiben sollte, fragen die Menschen, wenn man in der Altstadt unterwegs ist, mit ernster Sorge, ob wir denn aufgehört hätten, für den Frieden zu beten. Wir bemühen uns, bei diesem Gebet um den Frieden auch die Gebetstraditionen zu berücksichtigen, und haben deshalb in unsere Komplet, in das Nachtgebet der Mönche, Elemente aus den anderen Konfessionen und Religionen integriert, um uns im Gebet mit ihnen zu verbinden: Am Mittwoch haben wir Elemente aus der christlich-orthodoxen Tradition, am Donnerstag aus der muslimischen und am Freitag aus der jüdischen.
Eine weitere wichtige Säule unseres Lebens als Benediktinermönche ist die Gastfreundschaft. Unser Ordensvater, der heilige Benedikt, hat uns in die Regel eingeschrieben, dass jeder Fremde wie Christus selbst aufzunehmen ist. Wenn wir dann im vorletzten Winter, auch aufgrund unserer besonderen geopolitischen Lage, einige Male jungen Israelis und Palästinensern Gastfreundschaft gewähren konnten, und diese jungen Leute sich auf neutralem Grund und Boden einfach kennen lernen und über ihre jeweilige Geschichte und ihre Sorgen und Ängste, aber auch ihre Sehnsüchte und Hoffnungen auf eine gemeinsame friedliche Zukunft austauschen konnten, dann mag das ein kleiner Baustein zum Frieden im Heiligen Land sein. - Gastfreundschaft ist auch für unsere Gottesdienste wichtig. Beispielhaft nennen möchte ich die Mitternachtsmesse an Weihnachten, zu der vor allem junge Israelis, jüdische Studentinnen und Studenten kommen. Sie kommen nicht, weil sie zum Christentum übertreten möchten, sondern mehr aus kulturellem Interesse. Aber gerade deshalb ist es wichtig, dass sie am Eingang der Kirche freundlich empfangen werden, dass sie auch am Beginn der Liturgie noch einmal freundlich begrüßt werden und dass ihnen gewisse Regeln vermittelt werden, am besten in ihrer eigenen Sprache Ivrith. Wir haben damit besonders zum vergangenen Weihnachtsfest sehr gute Erfahrungen gemacht.
In diesem Sinne wird auch nach und nach unsere Friedensakademie Beit Benedikt Gestalt bekommen können, die sich in erster Linie als ein Ort der Begegnung von Gästen und des gegenseitigen Austauschs versteht. Im Kern wird stets unsere betende Mönchsgemeinschaft stehen, die im Sinne benediktinischer Gastfreundschaft auch "den Fremden" in jeweils entsprechender und sinnvoller Weise am Kloster teilhaben lässt. Es wird darum gehen, das, was an Aktivitäten und Engagement ohnehin schon besteht, zu bündeln und zu stabilisieren.
Sie werden erkennen, dass es also eigentlich eine unauffällige Art von Friedensarbeit ist, um die meine Brüder und ich uns bemühen: Wir wollen als Mönche auf dem Zion und in Tabgha am See Genesareth leben. Dabei entspricht es guter benediktinischer Tradition, dass jede Gemeinschaft ihr Mönch-Sein eben auch in den jeweiligen Rahmenbedingungen orientiert. Wie das in unserem Falle aussieht, habe ich versucht, Ihnen etwas zu schildern. Vielleicht können wir so einen kleinen Beitrag dazu beitragen, die Wunden in den Seelen der Menschen zu heilen… Und das braucht Generationen!
Das Leben als Mönch auf dem Zion ist nicht einfach; das war es in der Vergangenheit nicht und wird es wohl auch künftig nicht sein. Jerusalem ist eben keine einfache Adresse, das stimmt schon. Dennoch: Es gilt die Paradoxie Jerusalems auszuhalten - Jerusalem, Stadt des glückseligen Gottesfriedens, und Jerusalem, Stadt des brüchigen menschlichen Machtstrebens. - Das auszuhalten ist die eigentliche Herausforderung. Es gilt, insbesondere die spirituellen Quellen Jerusalems auszuhalten, sie zu unterscheiden und ihren Reichtum und Segen zu nutzen.
Ich hoffe, ich habe Ihnen etwas die Perspektive des Psalmisten näher bringen können, der jubelt und seinem Gott für Jerusalem dankt:
"Alle meine Quellen entspringen in dir!"
Wir Mönche vom Berg Zion und vom See Genesareth werden deshalb noch lange nicht den Frieden im Vorderen Orient bewirken können, denn den kann im letzten nur Gott selbst uns gewähren. Aber wir sind bereit, als Mönche unseren speziellen Beitrag zu leisten…
Sie, verehrte Damen und Herren von der Stiftung Dr. Roland Röhl, fanden, dass dies Grund genug ist, dafür einen Friedenspreis zu bekommen. Ich freue mich sehr über die Auszeichnung des Göttinger Friedenspreises. Denn so erfahre ich und erfährt meine Gemeinschaft jene Solidarität und Verbundenheit, die auch wir im ganz konkreten brauchen. Es ist ein bisschen wie ein Echo oder eine Antwort auf den Psalmvers
"Alle meine Quellen entspringen in dir…!"
Im Namen meiner Brüder möchte ich deshalb Dank sagen, im Namen der Brüder der jetzigen Gemeinschaft und im Namen all unserer Brüder, die in den vergangenen 100 Jahren auf dem Zion und in Tabgha gebetet und gearbeitet haben. Und damit darf ich auch danken im Namen aller, die auf verschiedene Weise in dieser Zeit an unserem Mönchsleben teilgenommen haben. Dank sagen möchte ich den vielen Menschen, die uns auf so verschiedene Art mittragen. Dank sagen möchte ich natürlich besonders Ihnen, verehrte Damen und Herren der Stiftung Dr. Roland Röhl: dem Vorstand, der Jury "Göttinger Friedenspreis", dem Komitee zur Verleihung des Göttinger Friedenspreises, dem Beirat für Öffentlichkeitsarbeit sowie dem Kuratorium. Einfach: Danke!
Gestatten Sie mir, an dieser Stelle Ihnen ein Anliegen vorzutragen: Vor 100 Jahren entstand unser Kloster im Namen der Deutschen, ebenso wie etwas früher auch die lutherische Erlöserkirche gebaut worden ist. Im Hinblick auf die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre erkenne ich den Auftrag, dass gerade von Deutschland aus Gedanken des Friedens ausgehen bzw. ausgehen sollten. - Als deutsches Kloster sehen wir unsere Aufgabe, die Pax Benedictina im Sinne des sprichwörtlichen Bete und Arbeite der Mönche zu leben und im Sinne der Gastfreundschaft den Menschen im Heiligen Land zu dienen. - Mein Anliegen: Ich lade Sie alle ein, uns dabei zu ideell und materiell zu helfen.
Und: Eine herzliche Einladung nach Jerusalem möchte ich aussprechen. Jerusalem - eine schwierige Adresse auch heute noch - aber auch Ort all unserer Quellen…
Ich danke Ihnen.
+ Abt Benedikt M. Lindemann OSB