Dass die Urgemeinde für Mönche ein Vorbild ist, schreibt uns nicht nur der heilige Benedikt von Nursia (480-547) in unser Stammbuch. Durch die Lage der Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg, dem überlieferten Ort der Jerusalemer Urgemeinde, sind wir diesem Ideal auch geographisch und historisch verbunden. In unmittelbarer Nachbarschaft des Abendmahlssaals und der Pfingstkapelle ist unser Leben wie das der Urgemeinde geprägt durch die Lehre der Apostel und die Gemeinschaft, das Brotbrechen und das Gebet (vgl. Apg 2,42).
Der Titel unserer Abtei und unserer Klosterkirche hat eine große Bedeutung: Dormitio Beatæ Mariæ Virginis – Entschlafung der Seligen Jungfrau Maria – landläufig: Mariä Himmelfahrt. Die Jerusalemer Christen verehrten auf dem Zionsberg seit alters her das Wohn- und Sterbehaus Mariens, und sie überlieferten, dass zum Tod der Gottesmutter die Apostel von ihren Missionsreisen aus allen Enden der Erde wieder in die Heilige Stadt zurückkamen und sich am Sterbebett Mariens versammelten.
Ebenso kommen bis heute Tag für Tag Pilger aus aller Welt in unsere Kirche, um Maria ihre Sorgen und Nöte anzuvertrauen.
Nachdem sich das Christentum als Religion im Römischen Reich etabliert hatte, suchten immer mehr Frauen und Männer nach einem entschlossenen Lebensweg der Nachfolge Jesu, wie er zuvor besonders im blutigen Martyrium der Bekenner und Glaubenszeugen zum Ausdruck kam. In den Wüsten Palästinas und Ägyptens entstand so eine Art „weißes Martyrium“: Menschen gingen in die Einsamkeit und Stille, führten ein einfaches Leben in Gebet und Handarbeit, folgten einem alternativen Lebensentwurf, der sich dem frühchristlichen Mainstream nicht einfach widersetzte, sondern als lebendiger Baustein schon die Alte Kirche ergänzte.
Die Weisheit der Wüstenväter und -mütter über die Zusammenhänge von Körper, Geist und Seele, gewonnen aus Gebet, Betrachtung und einem gesammelten Lebensstil prägen bis heute geistliche Traditionen und formulieren in anderer Sprache Erkenntnisse moderner Psychologie.
Schon Pachomius der Ältere (292/98-346) fasste die für sich lebenden Mönche in der ägyptischen Wüste zusammen, gab ihnen für ihr fortan gemeinsames Leben ein Regel und gilt somit als Gründer der ersten christlichen Klöster.
Was in den Wüsten des Nahen und Mittleren Ostens begann, fand seinen Weg bald nach Europa. Martin von Tours (316/17-397) und Basilius der Große (330-379) sind nur zwei der bekanntesten Gestalten, die nicht nur die frühe Kirche insgesamt, sondern insbesondere auch das Mönchtum in seiner Frühzeit prägten. – Auf ihrer aller Erfahrung konnte Benedikt von Nursia (480-547) aufbauen.
Nach einer Zeit als Einsiedler lebte Benedikt in verschiedenen Gemeinschaften. Aus dieser Zeit stammt auch die „Regula Sancti Benedicti“, die er für seine Gemeinschaft auf dem Monte Cassino schreibt. In ihr sammelt er verschiedene monastische (d.h. klösterlich-mönchische) Traditionen und verdichtet sie in 73 Kapiteln und einem Prolog zu jenem Werk, das mit der Heiligen Schrift im Hintergrund die prägende Kraft für das westliche Mönchtum werden sollte. Das Mönchtum benediktinischer Prägung seinerseits ist es, das in seinem Lebensstil, in seinen Werkstätten und besonders den Klosterbibliotheken das Wissen der Antike bewahrt und damit das Europa des frühen Mittelalters mitprägt und gestaltet.
Heute sind es weltweit etwa 24.000 Frauen und Männer, die als Benediktinerinnen und Benediktiner nach dieser Regel leben. Hinzu kommen Zisterzienser, Trappisten und weitere monastische Gemeinschaften, die ebenfalls die Benediktsregel befolgen.
Was unter anderem die große Anziehungskraft der Benediktsregel ausmacht, ist ihr Bemühen um das rechte Maß und um Ausgeglichenheit: Sie kennt für die Mönche Zeiten des Gebets und Zeiten der Arbeit, Zeiten des Schweigens und Zeiten zum Reden. Sie macht sich Gedanken um das Maß der Speise und des Getränkes – und bleibt dabei offen für die alltäglichen Bedürfnisse der Mönche und ihre menschlichen Schwächen. Sie regelt – natürlich – den Tagesablauf, aber ist in nahezu allen Fragen offen für sinnvolle Alternativen. So muss jede Klostergemeinschaft in ihrer Zeit und an ihrem Ort neu den Geist der Benediktsregel erfassen und sich mit ihren Eigenheiten in den Strom der bunten monastischen Tradition einfügen.
Die Regel will die Rahmenbedingungen schaffen, damit das Leben des Mönches in einen Gleichklang und Rhythmus kommt, in dem ihm das Hören auf die Stimme Gottes in seinem Leben und in der Schöpfung leichter fällt. – „Höre, mein Sohn…!“ beginnt schon der Prolog und klingt damit wie das „Sch’ma Jisrael“, das „Höre Israel“, das jüdische Beter wie ein Glaubensbekenntnis zweimal am Tag sprechen.
Hin-ein-hören und in all dem, was in und um uns spricht und tönt, das heraus-hören, was wirklich wichtig ist, darum geht es im Leben eines Mönches: Er lebt, er betet, arbeitet und liest, um Gott selbst und Seine Spuren in unserem Leben und unserer Welt zu erkennen und ihnen zu folgen.
Soldaten und Händler hinterlassen seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte ihre Spuren in den Ländern und Völkern. Nicht weniger aber tun dies die Pilger aller Religionen. Besonders beeindruckende Pilger-Spuren finden sich am Rock of Inscriptions in der Wüste Sinai: Die Pilger mehrerer Jahrtausende und verschiedener Religionen und Sprachen haben sich in diesem Felsen mit ihren Eingravierungen verewigt.
Von christlichen Pilgern, die diesen Felsen auf ihrem Weg zum berühmten Katharinenkloster passierten, stammt das Regenbogenkreuz. Es ist eine Variation des Kreuzes, wie sie bis heute in ähnlicher Form viele orientalische Christen auch als Tattoo am Armgelenk tragen.
Laurentius Klein, Abt-Administrator der Dormitio von 1969 bis 1979, stieß bei einer ausgedehnten und wichtigen Wüstenwanderung, die er zu Beginn seiner Amtszeit unternahm, auf dieses Regenbogenkreuz. Seither ergänzt es unser traditionelles Abteiwappen und ist als Logo der Dormitio und des Theologischen Studienjahres weithin bekannt.
Liest man es von außen nach innen, erzählt das Regenbogenkreuz die Richtung der Heilsgeschichte: Im Geschenk des Regenbogens besiegelt Gott Sein Versprechen an Noah, die Erde nie mehr von einer Sintflut überziehen zu lassen: „Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde“, (Gen 9,13) – ein Bund mit der ganzen Schöpfung. Die zwölf Enden an den Kreuzarmen erinnern an die zwölf Stämme Israels (und darin auch schon an die zwölf Apostel), mit denen Gott den Bund mit dem Volk Israel schloss. Das Kreuz selbst schließlich steht für den Neuen und Ewigen Bund Gottes mit den Menschen in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen.
Von innen nach außen gelesen, beschreibt das Regenbogenkreuz unseren Dienst in Gebet und Arbeit als Mönche auf dem Zion und in Tabgha: Unsere Mitte und unser Ausgangspunkt ist Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene. Er sendet uns mit dem Geschenk Seines Friedens als Auftrag in die Welt. Zuerst zum Volk des Ersten Bundes, mit dem wir als Christen finstere, schuldhafte Stunden in der Geschichte teilen, aber auch den Schatz des Alten Testamentes. Besonders der Zionsberg steht als Verheißung dafür, dass Gott einst alle Völker in Sein Licht führen will – das ist gemeinsame Botschaft und gemeinsamer Auftrag von Juden und Christen. – Diese Botschaft gilt indes allen Völkern und Sprachen, denn Gott will Seinen Frieden allen Menschen und der ganzen Schöpfung zuteilwerden lassen.
Das Regenbogenkreuz drückt die unzerstörbare Treue und Liebe Gottes zu uns Menschen aus:
Zwei Symbole, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: Der Regenbogen mit seiner fröhlichen Farbenvielfalt ist seit jeher ein Zeichen für Hoffnung, das Kreuz dagegen steht auf den ersten Blick für Folter, Leid und Tod. Der Regenbogen beschreibt eines der wunderbarsten Phänomene der Schöpfung, das Kreuz zeigt an, wie unvorstellbar grausam Menschen miteinander umgehen, wenn sie sich zum Herrn über ihren Nächsten aufschwingen.
Und doch sind beide Symbole im Regenbogenkreuz vereint, dem Kreuz, das für die Benediktinermönche der Dormitio-Abtei in Jerusalem und in Tabgha für ihre Arbeit im Heiligen Land sehr bedeutsam geworden ist. Warum?
Unfrieden im Herzen der Menschen führt zu Feindschaft, Hass und Krieg in der Welt. Wir sind erschütterte Beobachter oder gar Betroffene vieler Formen der Gewalt und des Leidens unter den Menschen und allen Geschöpfen Gottes: Jeder trägt sein Kreuz.
Seit Jesus Christus für uns am Kreuz gelitten hat, ist das Kreuz aber auch zum Symbol der Liebe Gottes, des mit-leidenden Vaters aller geworden. Die Auferstehung Jesu, die uns die Erlösung gebracht hat, verwandelt das Kreuz zum Hoffnungszeichen des Lebens schlechthin.
In Jerusalem wurde das Paradox des Kreuzes errichtet: Zeichen des Leidens einerseits und Zeichen der Erlösung von allen Leiden andererseits.
Der Regenbogen kündet allen Menschen Segen, Heil und Frieden. Er ist das Zeichen des Bundes zwischen Noah und Gott. „Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde.” (Gen 9,13).
Der Bogen lenkt den Blick in den Himmel, in den Gott Abraham schauen lässt und ihm sagt: „Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst... So zahlreich werden deine Nachkommen sein” (Gen 15,5).
Die zwölf Enden des Regenbogenkreuzes erinnern an den Bund Gottes mit den zwölf Stämmen Israels am Berg Sinai. Die Zwölfzahl symbolisiert auch die Apostel, die im Auftrag Jesu die frohe Botschaft allen Völkern unter dem Himmel verkünden.