Der Berg Zion im Süden der Jerusalemer Altstadt ist für Juden, Christen und Muslime, für religiös und politisch denkende Menschen ein Ort mit einer hohen Dichte. Erinnerungen und Hoffnungen, alte Geschichten und Visionen sind mit diesem Berg verbunden – und prägen auch das Leben unserer Gemeinschaft.
Wer „Zion“ sagt, lässt Saiten eines Instrumentes erklingen, das von Zusammenführung und Sammlung, von Auftrag und Sendung des Gottesvolkes erzählt. Des einen Gottesvolkes.
Geographisch wandert die Bezeichnung: Zunächst bezieht sie sich auf jenen Hügel im Südosten, auf dem die Jebusiterstadt Jerusalem liegt, die David als „Burg Zion“ (1 Chr 11,5) vor drei Jahrtausenden erobert. Von dort aus dehnt sie sich nach Norden aus, auf das Areal des späteren jüdischen Tempels. „Zion“ ist nun das Synonym für die Gegenwart Gottes und die Erwählung des Volkes Israel.
So wundert es kaum, dass „Zion“ dann mit Jerusalem, mithin dem ganzen Land gleichgesetzt wird, und dass man schließlich jene politische Bewegung des 19. nachchristlichen Jahrhunderts, die eine Heimkehr der Juden aus aller Welt in das Land ihrer Urahnen betreibt, „Zionismus“ nennt.
Doch zuvor ist in der Kreuzfahrerzeit die Bezeichnung „Zion“ im engeren Sinne auf den Hügel im Südwesten der heutigen Altstadt übergegangen, da man damals die alte Davidsstadt auf diesem Hügel vermutet. – Davon gibt bis heute die arabische Bezeichnung eines Gebäudekomplexes in unsrer Nachbarschaft Zeugnis: Nebi Daoud – „(Grab des) Prophet(en) David“. Hier verehrten in den vergangenen Jahrhunderten muslimische Gläubige und in ihrer Folge bis heute jüdische Gläubige das vermeintliche Grab des legendären Königs David.
In der christlichen Überlieferung spielt der Berg Zion als Ort der Versammlung der Jünger Jesu eine große Rolle. Im so genannten Obergemach feiert Jesus vor seinem Leiden und seinem Tod das letzte Abendmahl. Verehrt und verortet im Gebäudekomplex des Coenaculums, in dessen Erdgeschoss auch das Grab Davids liegt.
An jenem Abend vertraut Jesus Seinen Jüngern unter den Zeichen von Brot und Wein sich selbst an: Sein Leben und Seine Botschaft der Hingabe und Liebe, Seinen Tod und die Verheißung auf das neue, ewige, vollendete Leben in Seinem Namen. Dass Sein Opfer aber grundlegend und anderes meint als die Rauch- und Brandopfer im alttestamentlichen Tempel, wird deutlich im Zeichen der Fußwaschung: So wie Jesus Seinen Jüngern die Füße wäscht, sich zu ihren Füßen hinab beugt, so sollen auch wir uns einander zuwenden, füreinander da sein.
Dass Sein blutiger Tod aber nicht einfach weggezaubert und in seiner Auferstehung verneint wird, macht Jesus deutlich, wenn Er nach Seiner Auferstehung in den Kreis der Jünger tritt, die sich wieder auf dem Zion versammelt haben. Jesus zeigt ihnen Seine Wundmale. Er ist der, der am Kreuz gestorben ist. Das neue Leben in Gott nimmt auch unsere Verwundungen ernst, verleugnet sie nicht. Vielmehr spricht der von menschlicher Gewalt gezeichnete Jesus Seinen Jüngern den Frieden zu. – Für uns als Klosterfamilie auf dem Zion Tag für Tag Gabe und Aufgabe, Geschenk und Herausforderung.
Denn die Begegnung mit Jesus in der Feier der Eucharistie, in der Fußwaschung und im Glauben an die Auferstehung bleibt nicht auf den inneren Kreis der Jünger oder der Klostergemeinschaft beschränkt: Diese Begegnung sucht den Weg in die Welt und zu den Menschen. Gott ist bleibend unter uns Menschen! Das ist die Erfahrung der Jünger an Pfingsten, als sie wieder im Gebet auf dem Zion versammelt sind.
Der pfingstliche Zion ist so der Geburtsort der Kirche, denn von hier aus machen sich die Apostel auf in alle Welt, um die Botschaft Jesu zu verkünden. Wie ein Pulsschlag beginnt in diesem Moment jene große Grundbewegung, die das Leben der Kirche und eines jeden einzelnen Christen prägt: Aus der Hinwendung zu Gott und aus der Begegnung mit Ihm erwächst die Bewegung auf unseren Nächsten und auf die Welt hin. Doch die Begegnung mit dem Nächsten und der Welt, unser Dienst für die Menschen und ihre Nöte bleibt auf Dauer leer und unerfüllt, wenn wir nicht immer wieder in jenen geistlichen „Urknall“ einschwingen und uns von Gottes Geist neu erfüllen und leiten lassen.
Als Maria, die Mutter Jesu, im Sterben liegt, finden auch die Apostel von ihren Missionsreisen wieder den Weg zurück auf den Zion. Auf unserer „Hausikone“ stehen sie um das Sterbelager Marias. Über der so versammelten Urgemeinde, einem Bild für die Kirche auch unserer Tage, sieht man auf dieser Ikone Christus als den erhöhten Weltenherrscher. In Seinen Händen trägt Er die Seele Marias wie ein Baby in Windeln gewickelt zum Himmel empor. – Bild und Zusage, dass alles Leben in Gott hinein vollendet werden wird.
So ist es Christus, der im Zentrum unserer Marienkirche steht. Mit den Aposteln und den Pilgern teilen wir Brot und Wein, erfahren, wie Christus selbst sich tief zu uns hinab beugt. Mit den Pilgern, den Aposteln und Maria beten wir um die Gaben des Heiligen Geistes. Mit Maria blicken wir hin auf unsere Vollendung. – Als Pilger sind wir auf diesem Weg den Zion hinauf. Hinaus in die Welt. Hin in die ewige Gegenwart Gottes.
Der tiefste Punkt der Erde, das ist Tabgha zwar nicht. Aber das Gebiet um den See Genezareth ist mit seinen etwa 200 Metern unter dem Meeresspiegel ganz gewiss eine der tiefsten von Menschen besiedelten Regionen. Tiefer leben Menschen nur noch im nach Süden anschließenden Jordangraben und am Toten Meer. Doch dort ist weitgehend Wüste. Das Gebiet um den See aber ist wasserreich, fast das ganze Jahr über grünt und blüht es.
Sieben Quellen sollen es gewesen sein, die in der Nordwestecke des Sees auf einem relativ kleinen Gebiet entsprangen. „Es war aber viel Gras an dem Ort“, berichtet das Johannes-Evangelium. Sieben-Quell, griechisch: Heptapegon nennt man den Flecken später. Im Laufe der Generationen und der Sprachenwechsel verschleift es zu „Tabgha“.
Tabgha liegt mitten unter den wichtigsten Orten, die mit dem Wirken Jesu in Wort und Tat verbunden sind, Seinen Heilungen und Wundern, Seinen Gleichnissen und großen Predigten: Seine Stadt Kafarnaum, der Berg der Seligpreisungen, der Ort der Erscheinung des Auferstandenen am See nach Johannes 21. Daneben Magdala, Chorazin und Bethsaida.
Gott wird Mensch, so bekennt es der christliche Glaube. In Jesus steigt Er hinab zur Erde, wächst auf in Nazareth, im Bergland von Galiläa, eine halbe Autostunde entfernt von Tabgha. Dann steigt Er noch weiter hinab an den See Genezareth, von etwa 300 Meter über auf 200 Meter unter dem Meeresspiegel. – Tiefer geht es kaum. Hier kommt Gott zu den Menschen, wendet sich ihnen zu, ihren Krankheiten und Verwundungen an Leib und Seele. „Mir ist weh um die Leute!“ sagt Er, als er die vielen Menschen auf den Wiesen um den Siebenquell sieht.
Das ist der Ort unseres Klosters. Der Ort, wo wir leben, beten und arbeiten.
Nur wenig halten die Jünger in den Händen, als Jesus sie auffordert, den vielen Menschen zu essen zu geben. Nur zwei Fische und fünf Brote. Sie wollten die Leute in die umliegenden Siedlungen schicken. Doch Jesus entlässt sie nicht aus der Verantwortung. Er lässt die Menschen sich ins Gras setzen. Er nimmt die zwei Fische und die fünf Brote, dankt dem Vater, spricht den Segen – und lässt teilen.
Und sie teilen und alle werden satt. Fünftausend Menschen sind zusammengekommen. Und es reicht für alle. Mehr noch: Als die Jünger die übrig geblieben Stücke einsammeln, werden zwölf Körbe voll.
Zwölf, das ist die Zahl, die alles umfasst. Zwölf Stämme bilden das alte Volk Israel, zwölf Apostel sind das Fundament der Kirche, zwölf Tore führen in das Himmlische Jerusalem: Da, wo Menschen im Namen Jesu miteinander teilen – Nahrung, Zeit, das Leben – da reicht es nicht nur für alle. Da bleibt auch noch übrig. Wenn wir manchmal meinen, nur wenig in der Hand zu haben, ist es in Wirklichkeit viel mehr…