Wenn Jesus durch uns durch geht...
03. Februar 2019
Predigt von Pater Basilius am 4. Sonntag im Jahreskreis, Sonntag, 3. Februar 2019, in der Brotvermehrungskirche in Tabgha.
Liebe Schwestern und Brüder,
in den vergangenen Wochen gingen durch die kirchliche Presse in Deutschland immer wieder verschiedene Statistiken und Befragungen: Wie viele Menschen im vergangenen Jahr faktisch aus der Kirche ausgetreten sind und wie viele es sich zumindest schon ernsthaft überlegt haben. Erschreckend hohe Zahlen. Aber vielleicht nicht wirklich überraschende Zahlen, wenn man ehrlich auf die Entwicklung in Kirche und Gesellschaft in den vergangenen Jahren schaut.
Professionelle Kommentatoren und vor allem die vielen Nutzer der Sozialen Medien haben das Thema dann entsprechend intensiv diskutiert. – Mit keineswegs neuen Argumenten und Ansichten: der lange Zeit fragwürdige Umgang mit der Missbrauchs-Dramatik, Zölibat, kirchliches Macht- und Finanzgebaren, Frauen in der Kirche, Weiheämter auch für Frauen, kirchliche Sexualmoral usw. usf.
Alles richtige und wichtige Themen, mit denen sich die Kirche auseinandersetzen muss. Und dabei denke ich nicht nur an die so genannte Amts-Kirche…
Ratlosigkeit und Wut der Menschen
Unser heutiges Evangelium legt aber noch eine andere Spur. Und ich glaube, es lohnt sich, dieser Spur zu folgen. Für die Kirche insgesamt. Für unsere jeweiligen Einzelgemeinschaften in Pfarrei oder Kloster oder wo auch immer. Und vor allem und zuerst auch für jeden von uns selbst.
Die Menschen von Nazareth nämlich stehen am Ende unseres heutigen Evangelien-Abschnittes ähnlich ratlos, traurig oder gar wütend da wie mancher von uns heute mit Blick auf die Kirche: War da was? Was war da?
Ja, da war was. Natürlich war da was in Nazareth in der Synagoge. Es war die intensivste Begegnung mit dem Herrn, die wir uns vielleicht vorstellen können. Und diese Begegnung lässt sich am treffendsten mit einem Fragezeichen beschreiben.
Und damit haben wir schon einen Querverweis in unsere heutige Zeit und unser Leben: Wir sind es immer noch gewohnt, dass Kirche gerne Punkte macht. Noch lieber Ausrufezeichen. Wenn sie sich einen nachdenklichen Ausdruck verleihen will, vielleicht noch einen Gedankenstrich.
Dabei ist es weder ein Geheimnis noch an sich selbst eine Frage, dass Menschen eben Fragen haben. Das gilt auch für die Leute in der Synagoge in Nazareth. Jesus spiegelt ihnen das ja sogar mit seinem Kommentar: „Sicher werdet ihr mir vorhalten…“ – Darin steckt schon die Frage: Warum denn bei uns nicht?
Und auch die Menschen unserer Tage, auch wir selbst haben Fragen: Über Gott und die Welt. Zu unserem Leben, vor allem dann, wenn es schwer und mühsam wird. Zu Leid und Unrecht, zu Krankheit und Tod, zu Gewalt und Hass: Warum? Woher? Wohin? Was dann?
In Theologie und Frömmigkeit hat die Kirche im Laufe der Zeit hierauf viele Antworten versucht zu geben: in Glaubensaussagen und rechtlichen Normen, in Liedern, Texten und Bildern.
Die Frage nach Jesus, dem Christus
Im Kern geht es dabei – zumindest idealerweise – immer wieder um die eine große Frage: Wer ist dieser Jesus, der Christus, und was bedeutet Er für mein und unser Leben?
Wer ist Christus denn für Sie, liebe Schwestern und Brüder?
Haben Sie ein bestimmtes Jesus-Bild, das Ihnen besonders wichtig und wertvoll ist? Ein Bild im konkreten Sinne, gemalt oder als Figur oder wie auch immer? Oder ein Bild in Worten, im sprachlichen Sinne?
Die Menschen in der Synagoge von Nazareth heute, die scheinen zumindest ein Bild von diesem Jesus zu haben: Er ist einer der Ihren. Sie kennen Ihn und Seine Familie. Er ist ja bei ihnen aufgewachsen.
Eigentlich eine gute, beruhigende und wohltuende Vorstellung: Einer aus der Heimat, dessen Vater man kennt, der gibt den Menschen neue Hoffnung, der bringt ihnen Heilung. Einer von uns. Einer, den wir kennen.
Jesus.
Jesus: den kennen wir.
Den kennen wir?
Vielleicht einer der fatalsten Fehler, den wir als Menschen – zumal als Christen – begehen können: Zu glauben, dass wir Jesus kennen. Dass wir wissen, wer und was und wie Er ist. Zu glauben, dass wir Gott kennen.
Ja, natürlich kennen wir Jesus. Natürlich ist Er auch einer von uns. Wir haben gerade wieder Weihnachten gefeiert: Gott wird Mensch, zeigt sich als der Emmanuel, als der Gott unter uns.
Jesus: Einer von uns?!
Und auch heute in der Synagoge von Nazareth geht es ja darum, dass Gott unter den Menschen ist: Unsere Leseordnung hat den Text aus dem Propheten Jesaja, den Jesus da vorgelesen hat und auf den Er sich bezieht, leider nicht aufgenommen: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe…“ (Lk 4,18 mit Jes 61,1). – Die Menschen in Nazareth haben ja auch von den Wundern Jesu gehört, die Er schon in Kafarnaum gewirkt hatte.
Gott ist einer von uns, in Jesus. Und in Jesus gilt die alte Zusage von Gottes Heil, das ER den Menschen immer und immer wieder schenken will.
Was aber die Menschen in der Synagoge von Nazareth erfahren und erleben, das sollte auch uns immer vor Augen stehen: Wir haben unsere Vorstellungen und Bilder, um nicht zu sagen unsere Wünsche an und unsere Projektionen von Jesus. – Aber Jesus ist nicht einfach so, wie wir ihn gerne hätten. Er ist eben nicht so einfach einer von uns – nach unseren Vorstellungen.
Wer sich auf solche Vorstellungen und Bilder verlässt und daran festhält, der wird mit ziemlicher Sicherheit irgendwann enttäuscht von diesem Jesus. Den verärgert und provoziert Er.
Wer sich solchen Wünschen und Projektionen hingibt, durch den geht Jesus einfach hindurch, wie durch die Menschenmengen dann auf dem Berg des Ärgernisses am Ende unseres Evangeliums. Sperren wir Gott in unseren Vorstellungen und Bildern ein, geht ER durch uns durch, berührt und trifft uns nicht.
Wer Jesus haben will, dem entgleitet Er
Wer Jesus „haben“ will, dem entgleitet Er. – Im Johannes-Evangelium, direkt nach der Brotvermehrung, heißt es: „Da erkannte Jesus, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein.“ (Joh 6,15).
Wer Jesus, wer Gott, auf eine bestimmte Rolle festnageln will, der schlägt Ihn ans Kreuz und tötet Ihn. – Und doch kommt Er dann wieder, denn Er lässt sich nicht festnageln auf unsere Bilder und Vorstellungen. Er trägt sie an Seinem Leib als Wunden, aber sie töten und fixieren Ihn nicht. Er kommt wieder. Anders. Wirklich. Als wahres Leben.
Aber auch dann gilt weiterhin, dass Er sich nicht festhalten lässt: „Er ist nicht hier!“ sagen die Engelsgestalten am Leeren Grab. – „Noli me tangere! Fass mich nicht an, halte mich nicht fest!“, sagt der Auferstandene selbst zu Maria von Magdala am Ostermorgen (vgl. Joh 20,17). – Wer Ihn festhalten will, dem entzieht Er sich.
Nicht festhalten, sondern neu geben und neu empfangen: „Geht hinaus in alle Welt und verkündet allen Geschöpfen das Evangelium!“, lautet der Auftrag des Auferstandenen an Seine Jünger (Mk 16,15).
Wer Jesus begegnet
Wer dem Herrn offen und suchend entgegentritt, wie der so genannte „ungläubige“ Thomas, der wird Ihn vielleicht eher berühren und erkennen, als wer Ihn in eine Schublade steckt, und glaubt, Ihn zu kennen. Denn durch den geht Gott einfach hindurch, der kann Gott nicht berühren.
Wer den Herrn aber sehnsüchtig und hoffend sucht, ohne zu große egoistische Erwartungen und egozentrische Projektionen, der kann Ihn berühren wie seinerzeit die blutflüssige Frau, die Ihn mitten in der großen Menschenmenge von hinten am Gewand berührt. „Im selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm ausströmte, und er wandte sich in dem Gedränge um und fragte: Wer hat mein Gewand berührt?“, heißt es bei Markus (Mk 5,30).
In dem einen Fall die Menschenmenge, durch die Jesus einfach durchgeht, als sei sie Luft. Im anderen Fall eine zarte Berührung im Gedränge, durch die Jesus sich selbst berühren lässt. – In unseren Begegnungen mit dem Herrn liegt ein Schlüssel für gelingendes Leben.
Unsere Jesus-Bilder mögen noch so gut gemeint sein, und unsere Erwartungen noch so edel und verständlich – ER ist anders. Doch das erfahren wir nur, wenn wir Ihm offen begegnen.
Gott lässt sich nicht ein- und nicht aus- sperren
Die voreingenommene und engherzige Begegnung der Verwandten und Nachbarn Jesu mit Ihm in der Synagoge von Nazareth macht dagegen sehr deutlich, dass Jesus, dass Gott sich nicht einsperren lässt: Nicht in unsere Vorstellungen noch in Tod und Grab. Er ist anders und größer und mehr.
Und deshalb lässt Er sich auch nicht aussperren. Nicht aus unserem Leben, und sei es noch so sehr von Sünde oder Krankheit gezeichnet, noch aus unseren Ängsten und Egoismen, wie bei den Jüngern in den Tagen nach der Kreuzigung, als Er dann trotz aller verschlossenen Türen und Fenster vor ihnen steht und ihnen Seinen Frieden, sein Heil, seinen Geist zuspricht.
Denn Gott ist und bleibt uns gegenüber immer frei.
So will Er uns auch begegnen, frei.
So sollen wir Ihm begegnen, frei.
Dann können wir Seine Nähe und Liebe erfahren.
Dann geht er nicht an uns vorbei oder durch uns durch, sondern berührt uns und lässt sich von uns berühren. Gerade in bewegten Zeiten wie unseren.
Dann kann für jeden Tag, an dem wir offen und frei dem Herrn begegnen, gelten, womit unser Tagesevangelium beginnt: Heute hat sich erfüllt... Heute.