Im Geist und in der Wahrheit
23. Mai 2019
Predigt von Prior Basilius am Kirchweihfest in Tabgha, Donnerstag, 23. Mai 2019 – in der Brotvermehrungskirche.
Schrifttexte:
Offeb 21,1-5a
Hebr 12,18-19.22-24
Joh 4,19-24
23. Mai 1949
Heute vor 70 Jahren, am 23. Mai 1949, ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten. Man nannte es bewusst nicht Verfassung, sondern Grundgesetz, denn man wollte angesichts der sich anbahnenden deutschen Teilung unterstreichen, dass es nur ein Provisorium sein sollte. Und wie so viele vermeintliche Provisorien hat es eine erstaunliche Lebensdauer entwickelt.
Das Grundgesetz hat sich als ein guter Rahmen und ein stabiles Gerüst erwiesen, in dem sich die neue Demokratie und das erneuerte Gemeinwesen nach dem schrecklichen Krieg entwickeln konnte. Das Bonner Grundgesetz hat Erfolgsgeschichte geschrieben: Es hat den Menschen in Deutschland über 70 Jahren Wohlstand, Gerechtigkeit und Frieden ermöglicht.
Freilich, es war immer wieder auch Herausforderungen ausgesetzt. Und das ist heute vielleicht mehr denn je der Fall. Das Grundgesetz ist keine Garantie für Gerechtigkeit und Frieden, sondern eben ein Rahmen und ein Gerüst, die von jeder Generation neu mit Leben erfüllt werden sollen, quasi ein Gebäude, an dem immer wieder weitergebaut werden soll, damit es seinen Zweck erfüllen kann und stark bleibt.
23. Mai 1982
Heute vor 37 Jahren, am 23. Mai 1982, ist diese, unsere Brotvermehrungskirche geweiht worden.
Nach der Notkirche, einem langjährigen Provisorium aus Blech, wurde eine neue Kirche im Gewand und in der Form alter Zeiten hier über dem heiligen Felsen und den wunderbaren alten Mosaiken errichtet.
Auch das ist eine Erfolgsgeschichte: Die Botschaft von Tabgha hat schon zu Zeiten Jesu mehr als nur die 5.000 Männer und die Frauen und die Kinder erreicht, die hier abends mit fünf Broten und zwei Fischen gesättigt wurden. Und auch heute noch verstehen diese Botschaft Menschen aller Religionen und Sprachen und Kulturen: Das Wenige und Kleine in unseren Händen, wenn wir es in rechter Weise teilen, dann reicht es für Viele, Viele, Viele. Wo sich Menschen in Barmherzigkeit einander nähern, da können auf eigene Weise Gerechtigkeit und Frieden, Heil und Shalom wachsen.
Mit Jesus auf dem Weg
Unsere Kirche ist für uns wie ein besonderer Rahmen und ein spezielles Gerüst, worin wir uns auf dem Weg der Nachfolge Jesu bewegen:
Immer neu Seine Einladung: „Kommt mit an einen einsamen Ort!“ (Mk 6,31)
Immer wieder Seine Sicht auf die Welt und die Menschen: „Mir ist weh um die Leute!“ (vgl. Mt 15,32).
Immer wieder Sein Auftrag: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ (Mk 6,37).
Immer wieder Seine Ermutigung: „Sammelt die Reste ein, damit nichts verdirbt!“ (vgl. Joh 6,12).
Unser Ortsevangelium von Tabgha ist ein bisschen wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland: Es ist wie ein Provisorium, wie ein Zwischenschritt auf dem Weg Jesu. Kreuz und Grab sind noch weit entfernt. Galiläa ist nicht Jerusalem, wo die Entscheidung fällt. So wie unsere moderne Kirche waren auch ihre spätantiken und byzantinischen Vorgängerinnen Kirchen am Weg. Für Pilger und Reisende ein Stopp unter vielen auf ihrer Reise. Auch für Jesus ist der Siebenquell nur ein Stopp unter vielen auf Seinem Weg, der Ihn dann schließlich nach Jerusalem führt.
Und der Ihn dann auch wieder hier her zurückführt nach Seiner Auferstehung, um noch einmal mit Seinen Freunden Brot und Fisch zu teilen, ihnen in Liebe und Barmherzigkeit zu begegnen. – Und so wird dieser Ort an den sieben Quellen noch einmal ein Zwischenstopp der Jünger auf ihrem Weg hinaus in die Welt, wo sie das Evangelium verkünden.
Ein Ziwschenstopp und Provisorium – auf dem Weg zu Gott
Provisorien und Zwischenstopps gehören zu unserem Leben dazu. Unsere Kirche ist ein im guten Sinne ein Stein gewordenes Provisorium. Die Mosaiksteinchen und die Wände und die Säulen und das Holzdach, sie geben uns Schutz und Halt, geben uns einen Raum zum Beten und zum Verweilen. Aber es ist doch nur ein Stopp.
Vielleicht ist es eine der Herausforderungen unserer Tage, dass wir nicht zu sehr an den Steinen und den Säulen festhalten. Vielleicht dürfen wir uns viel mehr vom Gespräch Jesu mit der Samariterin am Brunnen anregen und herausfordern lassen.
Es geht gar nicht darum, die Steine einzureißen und die Säulen umzuwerfen. Es geht, anders formuliert, wahrscheinlich gar nicht um eine neue und andere Kirche. Wir dürfen durchaus weiterbauen, an dieser alten Kirche. Und hier machen wir das ja auch sehr konkret in diesen Wochen einmal wieder…
So unerwartet und überraschend das Gespräch Jesu mit dieser Frau am Brunnen ist, so dürfen vielleicht auch wir unserer Zeit und den Menschen unserer Tage begegnen. Vielleicht erkennen wir dann auch besser, was es bedeutet, „im Geist und in der Wahrheit anzubeten“.
Unser Kirchweihfest ist uns zumindest immer neu Gelegenheit für Dank und frohe Erinnerung. Damit wir immer besser den Geist und die Wahrheit Jesu auch in unseren Tagen erkennen und leben können.
Denn unsere Kirche hier in Tabgha und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland teilen sich vielleicht nicht nur den Geburtstag, sondern auch eine Offenheit und Weite, eine Einfachheit und Tiefe, die gelebt werden wollen.
Denn mit Jesus sind auch wir unterwegs.
Unterwegs in diesem Land und unterwegs in unserem Leben.
Pilger unter Pilgern.
Wir machen Halt wie Jesus am Siebenquell und am Brunnen von Samaria, lassen auch die Zwischenstopps und Provisorien hinter uns auf unserer Suche nach Liebe und Barmherzigkeit, nach Heil und Heilung, nach Leben, nach Gott. Und „Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Joh 4,24).