Brückenbruderschaft am See Genezareth
20. Mai 2012
Predigt am Hochfest Christi Himmelfahrt zur Einweihung des neuen Benediktinerklosters in Tabgha im Heiligen Land am 17. Mai 2012
Liebe Mönche, liebe Schwestern, liebe Brüder!
1.
„Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen“ (Apg 1,11). Und am Ende des heutigen Festevangeliums heißt es: „Sie aber zogen aus und predigten überall. Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte die Verkündigung durch die Zeichen, die er geschehen ließ“ (Mk 16,20).
Es ist nicht der Beruf seiner Jünger, zu einem „Hans-guck-in-die-Luft“ zu werden, sondern auch die Erde nicht aus ihrem Blick zu verlieren. Es ist nicht von ungefähr, dass alte Darstellungen des Himmelfahrtsgeschehens oben die Füße des Herrn zeigen, die in der Wolke des Himmels im Begriff sind zu verschwinden, aber auf der Erde sind seine Fußstapfen inmitten der staunenden Jünger im Erdboden eingedrückt zu sehen.
Und der Herr sagt auch an anderer Stelle ausdrücklich: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20). Diese Fußspuren Jesu sind für Mönche und Nonnen normativ, denn sie sind berufen, auf diesem Weg der Nachfolge Christi unsere Schrittmacher zu sein. Ein Kloster ist wahrlich keine Insel der Seligen, aber es ist gleichsam die Vorhut auf dem Weg aus dem vielfachen Umstelltsein menschlichen Daseins in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.
Es sei nochmals gesagt, hier müssen die Mönche auf diesem Weg der Nachfolge Christi unsere Schrittmacher sein. Darum ist ein Kloster nicht nur für die Ordensfamilie selbst wichtig, sondern für die ganze Kirche. Wir Menschen sind umstellt von allen Seiten, von ganzen Heerscharen von Vergänglichkeiten und letztlich vom Tod. Wir müssen uns immer wieder fragen: Wo sind wir denn eigentlich frei und wo sind wir insgeheim gesteuert als Menschen, die man an ihren Emotionen und Wünschen wie Marionettenfiguren ziehen und lenken kann?
Das Leben Jesu gibt Ihrer klösterlichen Gemeinschaft im Heiligen Land, am See Genezareth, in Tabgha Orientierung und Wegweisung. Christus hat für uns gelitten. Damit hat er Ihnen und uns den vorgezeichneten Weg hinterlassen. Sie brauchen jetzt nur noch in seine Fußstapfen zu treten, die nicht verweht werden dürfen - wie auf den Himmelfahrtsdarstellungen der alten Kirche. Sie sind als Mönche das Spurenasicherungskommando Jesu in der Welt.
Unser Herr war kein privilegierter Außenseiter. Er selbst war einer, der von allen Seiten umstellt war. Der Weg, den er ging, ist nicht einmalig. Er ist auch für uns gangbar, weil er ihn bis zum Ende gegangen ist. Und deshalb sagt er uns: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Die Heilige Schrift gibt uns die Markierungspunkte dieses Weges an.
Er hat keine Sünde begangen, und in seinem Mund war kein trügerisches Wort. Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht; er litt, drohte aber nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter. Er hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen.
(1 Petr 2,22-24)
Wollen wir einen solchen Weg wagen? Vor dieser Entscheidung standen Sie, liebe Patres, als Sie sich entschlossen, hier ein Benediktinerkloster zu errichten. Das ist der einzige Weg, der aus dem Umstelltsein des Menschen in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes führt.
Heute, am Tag der Einweihung Ihres Klosters werden Sie nochmals gefragt: „Wollt ihr diesen Weg wagen?“. Wir versuchen, mit Ihnen einige Schritte zu bedenken, die das Leben Jesu als den Weg in die Freiheit für uns markiert hat.
2.
„Er hat keine Sünde begangen“. Sünde bedeutet immer Trennung. Sie ist das von Gott und den Menschen distanzierte Denken, das sich uns immer und überall anbietet. Jesus hat sich von den Menschen, die sich ihm in den Weg stellten, nie distanziert, sondern er hat sich als erstes immer gerade in diese Menschen hineinversetzt.
Dieses Verstehenwollen des anderen ist der erste Schritt vom Zwang des bloßen Reagierens auf den anderen hinein in die Freiheit des rechten Denkens und des rechten Handelns. Wer versteht, wirkt weithin schwächer als der andere, der von der Richtigkeit seines Standpunktes besessen ist. Wer verstehen will, der wird oft gegen sich selbst denken und handeln müssen. Aber dieses Verstehenwollen ist der einzige mögliche Brückenschlag über Abgründe hinweg.
Im Mittelalter gab es Brückenbruderschaften, in denen jedes Mitglied verpflichtet war, für die Instandhaltung der Brücken zu sorgen, damit die vielen Pilger des Mittelalters an ihre Pilgerziele kommen konnten. Unser Benediktinerkloster am Ufer des Sees Genezareth sollte eine solche Brückenbruderschaft sein, in der der einzelne durch sein Verstehen Brücken schlägt über Abgründe hinweg von Pater zu Pater, von Kloster zu Kloster, von Priester zu Pilger, von Christ zu Christ.
3.
Ein weiterer Schritt auf dem Weg, den uns das Leben Jesu zeigt: „In seinem Mund war kein trügerisches Wort“. Seit den letzten 100 Jahren haben unsere Zeitgenossen in Deutschland erfahren müssen, welche zerstörerische Gewalt klug gewählte Worte haben können, mit denen man versucht, Emotionen, Hoffnungen und Ängste hochzuspielen, um andere Menschen hinter sich zu bringen. Mein persönliches Leben war von solchen Versuchungen weitgehend geprägt.
Im Jahr 1933 wurde ich geboren, also im Jahr der Machtübernahme Hitlers. Dann erlebte ich in Thüringen nach unserer Vertreibung aus Schlesien 40 Jahre den Kommunismus in Reinkultur und jetzt die auch nicht einfache Zeit unseres demokratischen Staates. Es ist auch heute noch ein fast unumstößlicher Glaubenssatz im Umgang mit Menschen, dass Worte Mittel zum Zweck sind, um andere Leute hinter sich zu bringen: Dorthin, wohin man sie gerne haben möchte. Worte scheinen jeden Zweck zu heiligen.
Die Menschheit rechnet es sich schon als einen Fortschritt an, dass man Menschen heute nicht mehr vergewaltigt, sondern nur noch überredet. Als ob nicht auch ein überredeter Mensch ein vergewaltigter Mensch ist! Christus hat nie einen Menschen überredet. Seine Worte wollten helfen, dass jeder einzelne selbst die Wahrheit erkennt, um sie dann mit eigenen Worten nachzusprechen und nachzuleben und ihren Spuren nachzugehen. Christus hat die Menschen freigesetzt für ihren eigenen Weg auf der Suche nach der Wahrheit, die er selber ist.
Und, liebe Benediktinermönche und liebe Schwestern und Brüder, die Suche nach der Wahrheit verschafft uns heute ebenfalls keine starke Position in dieser Welt. Denn wer nach der Wahrheit fragt, der muss auch bereit sein, sich selbst immer wieder infrage zu stellen. Das umschließt die Bereitschaft, eigene Worte zurückzunehmen, eigene Positionen zu revidieren. Die Suche nach der Wahrheit bewahrt einen Konvent vor geistiger Erstarrung, vor Unbeweglichkeit und Vergreisung. Sie hält einen Konvent elastisch, beweglich, geistlich und jung. Wer nach der Wahrheit fragt, der stellt sich selbst infrage.
4.
Im Heiligen Land spüren wir überall die Spuren der Passion Christi. Er hat wirklich unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir alle von der Schuld gelöst würden und ganz der Wahrheit leben könnten. Das ist der schwierigste Schritt auf diesem Weg. Vor aller Augen ist das die schwächste Position der Nachfolge Christi.
Es ist der Mut, nicht nur irgendeine Schuld auf sich zu nehmen, sondern Dinge auf mich zu nehmen und auf mir sitzen zu lassen, die eindeutig andere zu verantworten haben. Wir begreifen es schon mit unserem vom Evangelium erleuchteten Verstand, dass ein großer Teil von Lüge, Hass und Egoismus, der uns umstellt, nicht anders aufgearbeitet werden kann, als dass sich da einer findet, der es trägt, der es auf sich nimmt und der es auf sich sitzen lässt, damit endlich Friede geschenkt wird.
Dazu aber persönlich „Ja“ zu sagen, das ist unglaublich schwer. „Es müsste schon sein“, sagen wir und denken wir, „aber muss ich es denn sein?“. Und so reihen wir uns ein in das Spiel mit dem Schwarzen Peter in der Hoffnung, dass es einen anderen trifft und dass er so anständig ist und ihn behält. Und so geht das Spiel unentwegt weiter um den Preis von Frieden und Freiheit. Das spricht ganz gegen unseren Selbsterhaltungstrieb.
Und hier sind unsere Mönche hingestellt.
Das ist keine fromme Romantik, nein, das ist der Platz an der geistlichen Front, wo auch für uns die Möglichkeit geschaffen wird, aus dem Umstelltsein von Sünde und Versagen in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes zu gelangen. Uns scheint es unmöglich, dass hinter der Annahme der Schuld der anderen eine ganz neue Freiheit, ein ganz neues Selbstbewusstsein, eine ganz neue Würde, ein total erneuertes Leben erscheinen kann. Das scheint uns unglaubhaft und unmöglich. Aber hier zeigt sich, wer der eigentliche Feind ist, der uns mit seiner friedlosen Unfreiheit umstellt.
Das ist letztlich der Tod, der uns zuflüstert: „Was willst du denn? Das hat doch keinen Sinn! Hinter dem Zaun gibt es nichts Neues. In der Klausur wird alles viel schlimmer. Bleibe mit beiden Beinen auf der Erde! Mach aus diesem Weg das Beste für dich! Und mache alle möglichen und unmöglichen Hindernisse zu einer Rollbahn für dich!“. Wenn Christus diesen seinen und unseren Weg aber nicht gegangen wäre, und zwar bis zum bitteren Ende, und wenn aus diesem Elend nicht die Auferstehung von den Toten hervorgebrochen wäre und in der Himmelfahrt seine Vollendung gefunden hätte, dann allerdings müssten wir vor dem Tod und seinem Weg kapitulieren.
Aber der wegweisende Helfer ist der österliche Christus selbst. Er ist ja nicht nur der Weg und die Wahrheit, er ist auch das Leben, wie uns der Blick in den Himmel zeigt.
Und in aller Aktivität der Nachfolge Christi kann der Zugang zur Freiheit nicht erzwungen, sondern nur erlitten werden im Verzicht auf eigene leichtere Wege, im manchmal schmerzvollen Gehorsam gegenüber der Wahrheit, im mutigen Hinschauen auf das, was uns umstellt: ganze Heerscharen von Vergänglichkeit und Tod.
Es gibt keinen anderen Weg, der zum Ziel führt. Wir brauchen ihn nicht zu suchen wie eine verirrte Herde, sondern wir dürfen hingehen mit dem Wort des wegweisenden Helfers im Ohr, der uns zuruft: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“.
Er zeigt uns seinen Weg, der zum Ziel führt, indem wir zum Himmel schauen, aber uns nun zu den hinterlassenen Fußspuren Jesu auf der Erde herabbeugen und ihn erwarten, bis er wiederkommen wird, wie wir ihn heute haben aufsteigen sehen.
Amen.
+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln