Wer bin ich?
11. Juli 2012
Predigt von Pater Basilius am 14. Sonntag B im Jahreskreis (8. Juli 2012) in der Dormitio
Was bin ich? Wozu bin ich? Wer bin ich?
Vor dieser Frage stehen, liebe Schwestern und Brüder, nicht nur Staatengemeinschaften wie die EU in Zeiten der Euro- und Schuldenkrise. Ist die EU nun nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, oder braucht es vielleicht auch mehr an politischer und staatlicher Einheit?
Auch unsere Kirche steht vor dieser Frage: Wer bin ich zwischen Pius-Bruderschaft und Dialog-Prozess?
Diese Frage betrifft natürlich auch unsere Gemeinden, unsere Gemeinschaften und Familien: Wozu bin ich? Welche Aufgabe hat die Familie, für ihre einzelnen Glieder und für die ganze Gesellschaft? Welche Aufgabe hat unsere benediktinische Klosterfamilie in Tabgha und Jerusalem? Wer bin ich?
Wer bin ich? – Zuerst und zuletzt ist das natürlich die Frage jeden Einzelnen. Was bin ich? Wozu bin ich? Wer bin ich?
Eine normale Frage mit Widerständen
Man braucht diese Frage gar nicht zu überpsychologisieren oder zu problematisieren. Sie ist normal, und sie gehört zu unserem Leben. Nur vergessen und verdrängen wir sie schon mal gerne. Denn die Auseinandersetzung mit ihr kann anstrengend sein.
Es gibt Momente des Glück in jedem Leben, so hoffe ich, in denen jeder seine Antwort geben kann: in der Beziehung zu Gott, in der Beziehung zu einem Menschen, im Beruf und wo auch immer. – Ja, das bin ich. Ich bin ich, und ich bin gerne ich.
Aber es kann auch schwierigere Erfahrungen geben. Momente, in denen das alles gar nicht so klar sein mag. Wir haben vielleicht ein Idealbild, eine Idealantwort auf die Frage „Wer bin ich?“ – Aber das Leben ist nicht immer ideal und einfach, es gibt Widerstände und Hindernisse.
Mit solchen Widerständen und Hindernissen haben auch die Hauptfiguren unserer heutigen Lesungen zu tun, die auf je ihre Weise vor derselben Frage stehen: Was bin ich? Wozu bin ich? Wer bin ich?
Das kann uns trösten. Denn wir sind mit dieser Frage offenbar nicht alleine. Sie betrifft jeden Menschen, der wachen Auges und mit offenem Ohr und bereitem Herzen durch diese Welt geht. Der große Prophet Ezechiel, der Völkerapostel Paulus und auch Jesus Christus selbst – auch sie stehen vor dieser Frage, erfahren Widerstände und Hindernisse. Aber sie erfahren auch, wie Gott ihnen bei der Antwort hilft. Denn als Kinder Gottes gehen wir nicht einsam und verlassen durch diese Welt.
Ezechiel
Nehmen wir den Propheten Ezechiel. Er erzählt von seiner Berufung.
Auch wenn seine Sendung, die er empfängt, sicher keine einfache ist, nämlich zu den abtrünnigen Söhnen Israels zu gehen mit ihren trotzigen Gesichtern und ihren harten Herzen, so ist es doch eine klare Ansage und eine klare Antwort auf Ezechiels Frage nach dem eigenen Ich.
Interessanter sind aber vielleicht die Verse vorher, am Beginn des Textes: Ezechiel wagt kaum, den Herrn zu beschreiben, dem er begegnet. Er spricht nur von dessen Herrlichkeit und fällt nieder auf sein Gesicht.
Erst, als er aufgefordert wird, sich hinzustellen, wird er zum Gesprächspartner für sein Gegenüber: Ich will mit dir reden! Erst jetzt kann er überhaupt seinen Auftrag empfangen.
So wichtig Ehrfurcht auch oft ist, zumal dann, wenn es um Gott geht: Am Ende wird es nicht darauf ankommen, devot auf dem Boden herumzukriechen.
Wer bin ich? – Wenn wir uns nicht von Gottes Geist erfassen lassen, uns mit beiden Füßen auf die Erde stellen lassen, die Freiheit und den Mut haben, zu schauen und zu hören, dann werden wir womöglich nie hören, was der Herr von uns will und wer wir wirklich sind:
Stell dich auf deine Füße, Menschensohn! Ich will mit dir reden!
Paulus
Dann hören wir den großen Paulus. Er weiß genau, worin seine Sendung und sein Auftrag bestehen. Er weiß darum, dass er eine einzigartige Offenbarung empfangen hat. Die Verkündigung von Kreuz und Erlösung, die Verkündigung Christi als des Gekreuzigten und Auferstandenen, das ist sein Auftrag, das ist sein Leben. Insofern kann er sehr eindeutig die Frage nach seinem Ich, nach dem Wohin und Wozu beantworten.
Doch diese Klarheit wird getrübt, durch einen Boten Satans, einen Stachel in seinem Fleisch, wie Paulus selbst schreibt. Worum es sich dabei handelt, weiß man nicht. Was Paulus aber daraus lernt, das ist auch für uns bedeutsam: Auch wir sollten uns nie und nirgends einbilden, wirklich alles erfasst zu haben, die Antworten und Lösungen gefunden zu haben. Wir sind in diesem Leben nicht perfekt und vollendet. Und das Gute daran ist, dass genau dies Raum für Gott und Gottes Wirken, für Seine Gnade lässt.
Wer bin ich? – Wenn wir uns nicht eingestehen, wo wir schwach sind und wie schwach wir sind, dann werden wir womöglich nie erkennen, wie mächtig Gott in uns wirken kann und wirken will. Wir werden womöglich nie den Satz hören und danach leben:
Meine Gnade genügt dir!
Jesus
Schließlich Jesus in Nazareth. Wir dürfen davon ausgehen, dass auch Er seine Sendung klar vor Augen hatte, in Wort und Tat nämlich die Liebe des Vaters im Himmel zu den Menschen zu bringen, ihnen Heil und Heilung zu bringen.
Aber gerade die, die Ihn doch am besten kennen müssten, reagieren auf Ihn wie die meisten von uns reagieren würden, wenn das Telefon klingelt und man uns sagt, wir hätten den Hauptpreis in einer Lotterie gewonnen – oder ähnliches… Wir lehnen ab, das kennen wir, haben es schon so oft gehört…
Wie Ezechiel steht Jesus nun vor Seinen Brüdern mit ihren trotzigen Gesichtern und ihren harten Herzen. Widerspenstig sind sie, erkennen nicht.
Und wie Paulus weiß Jesus, welch kostbares Gut Ihm anvertraut ist und was Er eigentlich zu den Menschen bringen will…
Wir wissen nicht, was in solchen Momenten in Jesus vorgegangen ist. Und das ist auch gut so.
Aber der Evangelist Markus benutzt eine Formulierung, die ich faszinierend und inspirierend finde: „Und er wunderte sich über ihre Unglauben…“.
Er ärgert sich nicht, wird nicht aggressiv und nicht laut, ist nicht persönlich getroffen und verletzt, resigniert nicht. Nein, Er wundert sich und zieht in die benachbarten, in die nächsten Dörfer…
Wer bin ich?
Wer bin ich? – Manchmal sind wir vielleicht auch einfach nicht das und der, wofür uns die Anderen halten. Sind nicht so, wie sie uns gerne hätten. Entsprechen nicht ihren Bildern und Projektionen.
Wenn wir dann nicht bereit und frei sind wie Ezechiel, uns auf die eigenen Füße zu stellen, dann bleiben wir in den Rollenfestschreibungen der Anderen stecken.
Wenn wir aber nicht demütig und ehrlich sind wie Paulus, dann werden wir unsere Schwächen nicht erkennen und in unseren eigenen Projektionen und Eitelkeiten gefangen bleiben.
Wer bin ich? Vielleicht werde ich es in diesem Leben nie so ganz erfassen.
Wenn wir aber mit unseren Füßen auf der Erde stehen, Augen, Ohren und Herz offen haben, und wenn wir um unsere Schwächen wissen, dann können auch wir uns hoffentlich wundern.
Wundern über die Anderen und über uns selbst. Wir können uns wundern und können Wunder, Veränderungen, heilende Veränderungen zulassen. Wir können Altes und scheinbar Sicheres zurücklassen und können Neues kommen lassen:
Das neue Leben im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Amen.