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Wieder etwas erblicken!

28. Oktober 2018

Predigt von Pater Basilius am 30. Sonntag im Jahreskreis, 28. Oktober 2018, an Dalmanutha/Tabgha

Abendrot am Jakobsberg. Aufgenommen beim Wochenende unseres Jungen Forums ((c) Bruder SimonPetrus). Abendrot am Jakobsberg. Aufgenommen beim Wochenende unseres Jungen Forums ((c) Bruder SimonPetrus).

Liebe Schwestern und Brüder,

ich war dieser Tage mit dem Auto zum Flughafen Ben Gurion unterwegs, um unsere neue Volontärin abzuholen. Ich hatte für die Fahrt glücklicherweise etwas mehr Zeit eingeplant, als theoretisch nötig. Trotzdem haben Hin- und Rückfahrt länger gedauert als normal. Das ganze Land schien voller Autos zu sein. Überall gab es Staus und Behinderungen. Mal war es eine Baustelle, die den Verkehrsfluss abgebremst hat. Mal ein LKW, der mitten auf einer großen Kreuzung liegen geblieben war. Mal war es der große Rückstau an einer Abfahrt. Insgesamt waren es einfach ungeheuer viele Autos. An ein gutes und flüssiges Vorankommen war kaum zu denken.

Diese vielen Autos und Menschen bemerken vielleicht auch gerade Sie, liebe Pilgerinnen und Pilger, in diesen Tagen noch einmal stärker: In diesen Oktoberwochen sind ungeheuer viele Menschen im Heiligen Land unterwegs. Das ist einerseits sehr schön. Bringt aber zugleich auch viele, viele Busse mehr auf die Straßen und auf die zu kleinen Parkplätze. Mitunter muss man anstehen, lange anstehen, um eine Kirche oder eine archäologische Stätte besuchen zu können.

Und gerade unsere Brotvermehrungskirche ist immer wieder über den Tag so vollgestopft mit Menschen, dass ich mich frage, welche Art von Besuch unsere Gäste da erfahren. – Was bewegt sich da noch? Im Äußeren, in all dem Vollen und Dichten? Und innen bei den Menschen, bei all dem Lärm und all der Bewegung? Bewegt da noch etwas? Geht da etwas voran?

Nochmal zurück zu meiner Flughafenfahrt: Denn auf dieser Strecke zwischen Tabgha und dem Flughafen fährt man ja auch direkt an der Westbank, an Palästina vorbei. Genauer: Man fährt am so genannten Sicherheitszaun vorbei, der in Wahrheit an den meisten Stellen mehr ist als ein Zaun, nämlich eine krasse und hohe Mauer aus Stahl und Beton und mit Wachtürmen. – Auch da ist für viele Menschen in diesem Heiligen Land kaum an ein normales und freies Vorankommen zu denken.

Wenn nichts mehr geht

Das scheint fast wie ein Bild für einige Situationen in unserem Leben zu sein: Es geht nicht voran. Wir sind gebremst und blockiert. – Das muss ja auch nicht immer schlecht sein, kann ab und zu auch gut tun.

Dennoch, immer wieder machen wir die Erfahrungen von Blockaden und Absperrungen. – Durch die Umstände einer bestimmten Lebenssituation, die womöglich kaum zu ändern wären. Es gibt eben auch in unserem Leben manchmal zu viele Autos, zu viele und zu Vieles um uns herum. Es stockt und bremst und blockiert, es geht nicht recht voran.

Aber es gibt auch die Unfälle, die aus Unaufmerksamkeit und Übermut, aus Aggression oder einfach Erschöpfung geschehen. Es gibt diese verschiedenen Zäune, mit denen wir uns schützen, mit denen wir andere draußen halten: Zäune aus Angst und Vorurteilen, aus Gleichgültigkeit und Egoismus. Und es gibt auch die Stahl- und Betonmauern, die sich irgendwie auch begründen und erklären lassen: mit unseren Erfahrungen und Traditionen, mit Vernunft und Verantwortung, mit Logik und Menschenverstand, mit Dogmen und Geboten und Gesetzen…

Das Ergebnis ist meistens ähnlich: Es steht etwas in der Landschaft unseres Lebens, es steht etwas zwischen den Menschen, es steht etwas zwischen uns. – Es verhindert und blockiert Bewegung, geschweige denn Begegnung.

Mit anderen Worten: Es verhindert Leben.

Am Straßenrand von Jericho

In einer ähnlichen Situation hat sich wohl auch Bartimäus gefunden, der blinde Bettler in Jericho. – Auch sein Leben ist blockiert und gebremst: Er ist blind, sieht nichts, kann sich nur schwer orientieren, vermutlich in einem nur sehr kleinen Aktionsradius, ist auf die Bezugspunkte in allernächster Nähe angewiesen. Fast wie ein Auto im Stau.

Und so kann er auch in jener Zeit nur schwer am wirtschaftlichen Leben teilnehmen, muss sich seinen Lebensunterhalt mit Betteln an der Straße verdienen. Auch hier: Leben nicht auf der Überholspur, bestenfalls auf dem Standstreifen, wenn nicht gar in der Gosse.

Heute nun hört er, dass Jesus in der Nähe ist. Und er ahnt, dass sich nun etwas bewegen kann. – Der Mensch, er „heißt Mensch, weil er hofft und liebt, weil er lacht und weil er lebt“, singt Herbert Grönemeyer.
Bartimäus hofft auf diesen Jesus, den Sohn Davids, den verheißenen Messias. Bartimäus spürt die Kraft des Lebens und der Liebe in diesem Jesus und in sich selbst. Und er ruft: „Hab Erbarmen mit mir!“

Doch von neuem steckt er in einer Sackgasse, in einem Stau, wie in einem Käfig: Denn die anderen, die wollen ihn nicht durchlassen, wollen ihn zum Schweigen bringen. Bauen neue Zäune. Blockieren und bremsen. Da soll sich nichts bewegen. Da soll nichts gehen. Es war doch schon immer so. Warum nun etwas anderes?

Liebe Schwestern und Brüder, ich glaube, dass dieser Moment in der Bartimäus-Geschichte vielleicht unserer Zeit am nächsten ist: Es ist gleich, ob wir in die Kirche oder in die Politik schauen – kann es so weitergehen? Können wir so weitermachen wie bisher?

Wir stehen mit diesen Menschen in Jericho da, an einer Schnittstelle. Mit der Wahrnehmung, dass da einer an der Seite ruft, dass uns da einer herausfordert, uns aus dem Gewohnten und Sicheren und Bequemen reißt. Im Hin- und Hergezogensein, gerade das gerade jetzt nicht zu wollen, mit dem Wunsch, da Ruhe zu schaffen. Und gleichzeitig schon zu ahnen, dass da nun doch anderes geschehen wird.

Die Diskussionen der Jugendsynode in Rom, die Diskussionen und Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Kirche, die Herausforderungen und Rufe von Missbrauchsskandalen und fortschreitender Säkularisierung – sie sind unser Straßenrand in Jericho. Die Frage nach einem verantworteten Umgang mit der Flüchtlings- und Migrationsfrage, die Herausforderungen der Globalisierung und Digitalisierung, des Klimawandels und der drohenden neuen Aufrüstung, die Folgen der Bayernwahl und heute der Hessenwahl – dies alles ist unser Straßenrand in Jericho:

Leben, wahres und gutes Leben ist irgendwie blockiert und bedroht.

Doch es bewegt immer mehr Menschen. – Weil es an vielen Stellen scheinbar nicht wirklich weiter geht, ahnen immer mehr Menschen, dass es genauso eben auch nicht weitergehen kann.

Jesus bleibt bei uns stehen

Auch Bartimäus lässt sich nicht länger blockieren, will, dass es für ihn weitergehen kann, setzt alle Hoffnung auf diesen Jesus. Und er ruft noch lauter: Hab Erbarmen! Hilf mir!

Und Jesus? Er bleibt stehen. Lässt sich nicht blockieren und leiten von den gängigen und scheinbar bewährten Vorstellungen. Er bleibt stehen. Nimmt sich Zeit. Sieht und hört. Hört genau hin. Fragt noch einmal nach: Was soll ich dir tun?

Jesus hat nicht schon die fertige Antwort in der Tasche. Gibt nicht schon selbst die Antwort, bevor die Frage zu Ende gestellt ist. Hört erst zu. Handelt nicht einfach intuitiv oder instinktiv, nichts selbstherrlich oder paternalistisch. Er handelt reflektiert und achtsam, in Liebe und Hoffnung, für das Leben.

Was er will, der Bartimäus? – Die Einheitsübersetzung sagt: Ich möchte wieder sehen können. – Der langjährige Tübinger Theologe und Philosoph Friedolin Stier übersetzt auch hier inspirierter und inspirierende: „Rabbuni, etwas erblicken möchte ich wieder!“

Etwas erblicken möchte ich wieder!

Etwas erblicken, das reicht tiefer und weiter als einfach sehen: Ein Blick kann nämlich nicht nur töten, sondern er kann auch Leben schenken. Ein Blickkontakt, zumal der erste, schafft Beziehung, kann Liebe auf den ersten Blick wecken. Er kann trösten und ermuntern, er kann auch zur Vorsicht mahnen, ohne Worte eine Antwort geben. Menschen, die sich kennen, wirklich kennen, die können sich auch durch einen kurzen Blickkontakt verständigen.

Ein Augenblick kann eine ganze Ewigkeit sein. In einem Augenblick können wir unser ganzes Leben noch einmal erleben. – Etwas erblicken, das hat auch mit erkennen und verstehen zu tun.
Blicken, das ist nicht voyeuristisches Glotzen oder zielloses Hin- und Herschauen. Etwas erblicken, wieder etwas erblicken, da schwingt auch Hoffnung und Sehnsucht mit. – Hab Erbarmen. Bring Bewegung. Lass mich blicken. Lass mich hoffen und lieben und leben.

Jesus bleibt stehen. – Und für Bartimäus beginnt eine neue Bewegung.

Jesus fragt. – Und Bartimäus selbst ist die Antwort.

Jesus hört. – Und Bartimäus sieht, kann wieder etwas erblicken.

Bartimäus wird neu Mensch. „Und der Mensch heißt Mensch, weil er irrt und weil er kämpft. Und weil er hofft und liebt. Weil er mitfühlt und vergibt. Und weil er lacht. Und weil er lebt.“ (Herbert Grönemeyer)

Jesus auf Seinem Weg folgen

Liebe Schwestern und Brüder, die Verkehrstaus und Pilgerströme im Heiligen Land in diesen Tagen, die großen und kleinen Fragen in Kirche und Politik, unsere eigenen Lebensgeschichten, sie sind unser Straßenrand in Jericho. Wir sind auf dem Weg. Nicht immer flüssig und schnell.

Manchmal sind wir dann wie die Menschen am Straßenrand. Blockieren selbst und werden blockiert.

Manchmal sind wir wie Bartimäus. Hoffen und sehnen, wollen leben und lieben. Rufen. – Lassen Sie uns häufiger wie Bartimäus ein!

Und manchmal sind wir auch wie Jesus. Bleiben stehen. Blicken und hören. – Vor ein paar Tagen hat jemand zu mir gesagt, der Jesus hier am See und in Galiläa, der hatte keinen Pastoralplan, der war hatte keine fertigen Antworten, der hat auch mal experimentiert. – Ja, auch Er, der Herr, lässt sich bewegen, lässt sich stoppen, um uns neu zu bewegen. Damit wir sehen und erblicken, damit wir hoffen und lieben und leben.

Bleiben wir mit Ihm stehen und gehen wir mit IHM weiter auf Seinem Weg.