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Verortungen

17. Oktober 2010

Predigt von P. Basilius Schiel OSB am 29. Sonntag im Jahreskreis C, 17. Oktober 2010, in der Dormitio

49° 47‘ nördlicher Breite, 6° 35‘ östlicher Länge.

Dort, ungefähr, befand ich mich am 17. Oktober 1997. In einem Tagungshaus in der Gemeinde Aach bei Trier. Ich hatte gerade das erste Jahr Theologiestudium in Trier hinter mir und war als Begleiter bei den Einführungstagen für die Studienanfänger dabei. Diese Tage waren besonders zum gegenseitigen Kennenlernen gedacht, und um weitere Informationen zum Studium und zur Prüfungsordnung zu geben, zu den Berufsgruppen und den damit zusammen hängenden Institutionen. Es ging also darum, den Neuen zu helfen, sich zu orientieren in der neuen Stadt und im neuen Umfeld, ihren Platz und ihre Verortung zu finden.
Ich saß an jenem Morgen früh in der Hauskapelle und habe, wie man es mir im Priesterseminar beigebracht hatte, die „Lesehore“ gebetet; also das, was wir Mönche Vigil nennen. Dazu gehört neben den Psalmen vor allem ein längerer Lesungstext, an den Gedenktagen der Heiligen ist das ein Text von dem Heiligen oder über ihn. An jenem 17. Oktober war das ein Ausschnitt aus dem Brief des heiligen Ignatius von Antiochien an die Gemeinde in Rom. Die Legende sagt, Ignatius sei jener Junge gewesen, den Jesus einst in die Mitte der Jünger gestellt hatte: „Amen, das sage ich euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte“ (Mt 18,2-4). Petrus selbst, so die Legende weiter, habe ihn später zum Bischof geweiht und als seinen Nachfolger als Bischof von Antiochien, im Gebiet der heutigen Türkei, eingesetzt.
Historisch gesichert sind für Ignatius indes seine sieben Briefe, die er auf seiner Fahrt durch Kleinasien und über das Mittelmeer verfasst hat, nachdem man ihn verhaftet hat und nach Rom bringt, unter ihnen sein Brief an die Christen in Rom:
Ignatius weiß, dass ihm in der Hauptstadt des Römischen Reiches die Hinrichtung droht. Und er will den Tod annehmen. Er bedrängt seine Glaubensbrüder in Rom, nichts zu unternehmen, um ihn vor diesem Schicksal zu bewahren: „Überlasst mich den Tieren zum Fraß; denn durch sie kann ich zu Gott gelangen. Weizen Gottes bin ich; die Zähne der wilden Tiere sollen mich mahlen, damit ich reines Brot Christi werde.“
Da schreibt einer, der seinen Ort gefunden hat; der sich selbst und sein Leben im großen Heilsplan Gottes verortet hat; der für sich selbst erkannt hat, wohin es unter der Führung Gottes geht. – Auch wenn uns knapp zweitausend Jahre später der Gedanke an ein blutiges Martyrium vielleicht befremdet, in seiner Haltung hat mich Ignatius fasziniert und gewissermaßen irritiert.
Andererseits: Später im Studium habe ich gelernt, dass Igantius in seinem Denken auch die Grundlage geschaffen hat für die Bedeutung des Bischofsamtes und für dessen Stellung in der Kirche, was für die katholischen und die orthodoxen Kirchen bis heute spürbare Folgen hat und diese Kirchen in ihren Strukturen prägt, ihnen Orientierung gibt, eine Verortung.
Ein bisschen was davon konnte ich an jenem Morgen damals erahnen, in Aach bei Trier, 49° 47‘ nördlicher Breite, 6° 35‘ östlicher Länge.

36° 12‘ nördlicher Breite, 36° 9‘ östlicher Länge.

Wir haben uns weiter nach Osten und weiter nach Süden bewegt und sind in der modernen türkischen Stadt Antakya, den antiken Antiochia. Hier war Ignatius einst Bischof und Patriarch. Seinetwegen und ihm zu Ehren tragen bis heute viele Patriarchen von Antiochien seinen Namen. Und Patriarchen gibt und gab es viele in dieser Stadt kurz vor dem Mittelmeer, denn Petrus selbst soll hier Bischof und Patriarch gewesen sein.
Mit Jerusalem, Alexandrien, Rom und Konstantinopel war Antiochia daher einer der fünf Patriarchensitze der frühen und ungeteilten Kirche. Doch dann kamen die verschiedenen Spaltungen und Trennungen. Und so kennt die Geschichte einen syrisch-orthodoxen Patriarchen von Antiochien und einen griechisch-orthodoxen, beide residieren heute in Damaskus; es gibt gar drei katholische, unierte Patriarchen: einen maronitischen mit Sitz bei Beirut, einen melkitischen mit Sitz in Damaskus und einen syrisch-katholischen mit Sitz in Beirut; auf den bloßen Ehren-Titel eines lateinischen, also römisch-katholischen Patriarchen hat man erst seit 1964 verzichtet. Nochmal, nicht weniger als zumindest theoretisch sechs Bischöfe, die sich auf die Tradition des Petrus und des Ignatius berufen und sich Patriarch von Antiochien nennen, die ihre amtsmäßige und ruhmreiche Verortung in dieser Stadt haben. Sechs Patriarchen.
Dabei hatte es doch eigentlich in Antiochien angefangen, gewissermaßen. Denn dort, so lesen wir in der Apostelgeschichte „nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen“ (Apg 11,26). Das, was uns wie eine Art zweiter Vorname ist – oder sein sollte, zugleich Ehrentitel und Schimpfwort, „Christ“, das hat in Antiochia seine sprachliche und historische Verortung. – Heute aber gibt es nur noch wenige Christen unter den knapp 190.000 Einwohnern der modernen türkischen Stadt Antakya. 36° 12‘ nördlicher Breite, 36° 9‘ östlicher Länge.

41° 54‘ nördlicher Breite, 12° 27‘ östlicher Länge.

Wir bewegen uns wieder ein ganzes Stück Richtung Westen, ein wenig nach Norden und erreichen bei unserer Gedankenreise den Vatikan. Denn dort kommen in diesen Tagen zur Nahostsynode ja genau solche Bischöfe zusammen, wie es auch Igantius von Antiochien einer gewesen sein dürfte. Orientalische Regionalfürsten, vielfach von einem strotzenden Selbstbewusstsein und von einer Dramatik im Auftreten, die uns Westlern einfach Respekt abnötigt; die wissen, wie sie ihre Angelegenheiten zu verkaufen haben; die Chuzpe haben, wie man bei den Juden sagt, eine Art von charmanter Dreistigkeit; die gleich der Witwe aus unserem heutigen Evangelium bis zum Überdruss ihre Anliegen vertreten – und durchkommen.
Und diese Bischöfe beraten nun darüber, dass da, wo es einst angefangen hat mit den Christen, in Antiochien, in Jerusalem und Betlehem, in all den Dörfern und Städten, aus denen die Propheten, die Apostel und ersten Zeugen der Auferstehung kamen, dass dort, wo das Wort Gottes seine entscheidende Verortung genommen hat, dass es dort überall immer leerer wird, dass immer mehr Christen die Ursprungsregion unseres Glaubens verlassen. Und übrig bleiben die Bischöfe und Patriarchen, manchmal gleich mehrere verschiedener Riten für ein und denselben Bischofsstuhl.
Sie sitzen nun zusammen und ringen und suchen, wie die Christen hier im Mittleren Osten Zeugnis abgeben sollen und können von der Botschaft der Liebe und des Lebens; wie sie in einer Region der Konflikte und der Kriege dem Frieden und der Versöhnung eine Verortung geben können.

31° 46‘ nördlicher Breite, 35° 13‘ östlicher Länge.

Vom Vatikan aus ist das noch mal Richtung Süden und um einiges nach Osten. Sie ahnen es vielleicht schon: Wir sind auf dem Zionsberg. Hier bei uns.
Die meisten modernen Menschen, selbst die meisten modernen Mönche, reisen viel. Sie fahren kreuz und quer durch die moderne Welt. Und mit Hilfe von Google-Earth, von Satelliten und GPS-Geräten, die mittlerweile nahezu in jedem Handy eingebaut sind, können wir fast metergenau unsere Position auf diesem Erdball bestimmen und angeben und ganze Tabellen von Breitengraden und Längengraden und –minuten und –sekunden produzieren, um damit unseren Standort und unsere Wege zu beschreiben.
Solche Standorte und Wegstrecken erzählen natürlich viel auch über uns und unser Leben. – Aber was erzählen sie über unsere Verortung? Haben wir eine Ahnung von unserem Ort in Gottes Heilsgeschichte? Wissen wir wohin unsere Reise wirklich geht?
Vermutlich nicht. Und das ist vielleicht auch gar nicht so schlimm.
Das heißt, es wäre womöglich schlimm, wenn wir alleine wären auf diesem Weg. Aber das sind wir ja nicht. Wir sind unterwegs, mit denen, die ihre Verortung schon gefunden haben, wie der heilige Igantius von Antiochien. Wir sind unterwegs mit denen, die uns den Glauben und die Botschaft des Lebens und der Liebe übergeben haben. Wir sind unterwegs mit stützenden Menschen an unserer Seite, wie Mose mit Aaron und Hur an seiner Seite. Und natürlich können wir selbst auch wie Aaron und Hur andere stützen, damit Gottes Gegenwart in dieser Welt erfahrbar wird.
Und vor allem sind wir als Getaufte, als Gesalbte, als Christen unterwegs unter dem Beistand des Heiligen Geistes. „Gottesträger“, diesen Beinamen trug Ignatius von Antiochien. Geistträger, das sind wir alle!

31° 46‘ nördlicher Breite, 35° 13‘ östlicher Länge.

Die Koordinaten des Zionsberges. Das sind auch die Koordinaten des Pfingstereignisses. Verortung der Sendung der Kirche, der Einen Kirche. Verortung des Beistandes Gottes in der Welt und in unserem Leben. Verortung unserer Eucharistiefeier heute morgen!
Unser Ort heute morgen!
Ort des Geistes.
Und der Ort des Geistes, das sind wir.
Unabhängig von Längen- und Breitengraden.