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Meldung im Detail


Talitha Kumi!

01. Juli 2012

Predigt von Pater Ralph am 13. Sonntag im Jahreskreis B (1. Juli 2012) in der Dormitio

„Talitha Kumi” heute Wer in der Neustadt die Ben Jehuda Street hinaufgeht und zur Kreuzung mit der King George Street gelangt, findet dort auf dem Platz vor dem Kaufhaus HaMashbir, direkt neben der Bushaltestelle, die freistehende Giebelwand eines Hauses aus dem 19. Jahrhundert: Drei Torbögen, eine Uhr – und eine Auf-schrift mit dem Namen des Gebäudes, dessen letzter Rest diese Wand ist: Talitha Kumi – „Mädchen, steh auf!“ Hier war der frühere Ort der deutschen evangelischen Mädchenschule, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Beit Jala neu errichtet wurde.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts lag „Gottfried’s Hill“ weit außerhalb der damaligen Stadt, und die Schule bestimmte den Ort. Heute liegt der Platz mitten im lärmenden Stadtzentrum. Wenn ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor der roten Ampel warte und die vorbeifahrenden Busse den Blick auf den alten Torbogen verdecken und wieder freigeben, erlebe ich ihn wie einen unzeitgemäßen Fremdkörper, still und etwas traurig. Ich vermute, dass viele ihn gar nicht wahrnehmen, und die Meisten auch nicht wissen, welche Geschichte dahinter steht, oder gar, was die Worte Talitha kumi bedeuten.

Worte aus einer anderen Zeit

Die Uhr an dieser Giebelwand funktioniert, sie geht weiter, auch im Jahr 2012, und spricht vom Jetzt – die beiden Worte darunter aber – Talitha kumi – sie klingen aus einer ganz anderen Zeit herüber, und nicht allein aus der historischen Zeit dessen, der sie gesprochen hat, vor 2000 Jahren am See Gennesareth, sondern sie klingen aus der Ewigkeit Gottes überhaupt in unsere Zeit hinein.

Die Worte selbst sind un-Zeit-gemäß, sie durchbrechen da-mals wie heute unsere menschliche Erfahrung einer Zeit, die verrinnt, die vergeht und uns Menschen dem Vergehen und dem Tod zuführt, sei es ein zwölfjähriges Kind oder ein Hun-dertjähriger. Jesu Tat aber wirkt Gottes Leben, das größer ist als aller Tod, und das nicht erst nach dieser Welt, sondern mitten in diese unsere Welt hinein. Bei allem Leid und Tod ist sie dennoch Gottes gute Schöpfung. Denken wir an den Schöpfungsbericht am Beginn der Genesis: „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe: es war sehr gut“; hören wir noch einmal die Lesung aus dem Buch der Weisheit: „Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen“, ja, er hat „den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht.“ Wenn wir Ihm glauben, ist dies die letzte Wirklichkeit der Welt.
Die vorletzte Realität freilich sind Krankheit, Gewalt und Tod. Sie sind sehr real und können uns das Fürchten lehren. Ist nicht das der Grund, dass Jesus zum Synagogenvorsteher sagt: „Fürchte dich nicht – glaube nur!“ Der Glaube kann die Furcht überwinden, wenn er sich selbst in die liebende Hand und in das Leben Gottes hineinlegt.

„Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur“, sagt Jesus und sie lachen ihn aus. So ein Spinner, denken sie wahrscheinlich, wir wissen doch, was wir sehen. Wir kennen doch diese Welt und wissen, wie es hier läuft. Ja, Jesus wirkt ein Wunder und durchbricht das, was wir als die Ordnung der Natur zu kennen meinen. Aber wenn ich glaube, dass Gott eben Gott ist und nicht bloß die Projektionsfläche meiner Wünsche, darf ich und muss ich ihm denn dann nicht zutrauen, dass er Wunder wirkt? Darf und muss ich mich dann nicht mit wachen Sinnen und offenem Herzen ver-Wundern lassen, ob wirklich alles so quadratisch, praktisch und oft eben gar nicht gut ist, wie ich es mir selber vorstellen kann, oder ob nicht die größere Wirklichkeit Gottes all dies überschreitet?

Gottes Zuwendung

Schauen wir doch noch einmal, was Jesus nach der wunderbar einfachen Sprache des Evangelisten Markus tut. Als erstes folgt er der Bitte des Vaters und geht einfach mit, keine Vorträge, kein groß in Szene gesetztes Vorspiel, er geht einfach selber hin. Und auch dann: Keine große Show, sondern, ganz im Gegenteil, schickt er alle bis auf die Eltern und seine engsten Freunde hinaus. Dann fasst Jesus das Kind an der Hand, nimmt einen unmittelbaren leiblichen Kontakt auf. Er spricht nicht irgendetwas über das Kind, sondern er spricht es an, „Mädchen, steh auf!“, ganz direkt und an die wiedererweckten Sinne gerichtet. Das ist keine ärztliche Anwendung, sondern Gottes personale Zuwendung zu seinem geliebten Geschöpf. Sie geschieht so konkret, und so stark muss dieses Erlebnis für die Zeugen gewesen sein, dass Markus im griechischen Text die aramäischen Worte stehen lässt: Talitha kum oder auch Talitha kumi.

Der Schlusssatz berührt mich auf ganz eigene Weise: „Er sagte, mann solle dem Mädchen etwas zu essen geben“ – wunderbar praktisch und lebensorientiert, so begegnet uns Gott in seinem Sohn. Nicht allein vor 2000 Jahren am See Gennesareth oder hier in Jerusalem, sondern so begegnet er uns allen, wenn wir nur bereit sind, uns von Ihm verwundern zu lassen, wenn wir ihm nur zutrauen, dass er immer noch Wunder wirkt – ja, dass seine Wunder vielleicht die eigentliche Wirklichkeit sind, für die unsere Sinne oft zu stumpf und unser Herz zu eng geworden sind.

Gottes Heil

Noch einmal ein Vers aus der ersten Lesung aus dem Weisheitsbuch: „Zum Dasein hat Er alles geschaffen und heilbringend sind die Geschöpfe der Welt.“ Hier geht es nicht allein um Heilkräuter, sondern darum, glaube ich, dass die Geschöpfe der Welt, uns selber eingeschlossen, in ihrem Gut-Sein füreinander und aufeinanderhin geschaffen sind. Wir sollen und dürfen füreinander gut und heilbringend sein.
Gott wirkt unser Heil so, dass wir es auch mit den Sinnen erfahren können. Wir alle sind Kinder, Seine Kinder, die Er liebevoll an der Hand fasst, anspricht, aufrichtet und immer wieder neu ins Leben zurückstellt. Und wenn es durch die helfende Hand und das tröstende Wort eines lieben Menschen geschieht, mag gerade dieser Mensch das größte Wunder Gottes sein, in dem Er uns begegnen will.

Mitten in der Zeit

Von der empfangenen Liebe dürfen und sollen wir Zeugnis geben – das ist unsere Berufung. Vielleicht gleichen wir dann ein wenig der Giebelwand des alten Talitha Kumi neben der Bushaltestelle in der King George Street. Vielleicht ist das, was daran so unzeitgemäß und ortsfremd wirkt, gerade das, was unseren Ort als Christen in der Welt prägen soll: Mitten im Geschehen zu stehen, mit einem funktionsfähigen Uhrwerk, aber doch mit einer Botschaft, die diesen Alltag heilbringend überschreitet: Talitha kumi − Mädchen, steh auf.

Den Menschen damals hat Jesus aufgetragen, dem Mädchen etwas zu essen zu geben, damit es wieder zu Kräften komme. Uns österlichen Menschen gibt er sich selbst zu essen in der Eucharistie − um uns aufzurichten und uns die Kraft zu geben, unsere Schwestern und Brüder aufzurichten.

Für das wache Herz ist es alles ein einziges Wunder.


Bildquelle: http://conradschick.wordpress.com/architecture/thalita-kumi/